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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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Liebe – alles eingeschlossen in diese beiden Wörter.
    Aziz setzte sich auf. Seine grünen Augen blickten starr. Im schwachen Lampenlicht und inmitten der gebleichten weißen Bettwäsche wirkte sein schönes Gesicht merkwürdig fahl, aber es lag auch etwas Kraftvolles, ja Unsterbliches darin.
    »Das Morgengebet ist etwas Besonderes«, murmelte er. »Wusstest du, dass von den fünf Gebeten, die ein Muslim täglich verrichten soll, das am Morgen als das heiligste, aber auch als das anstrengendste gilt?«
    »Und warum?«
    »Wahrscheinlich, weil es uns aus unseren Träumen reißt, und das mögen wir nicht. Wir würden gern weiterschlafen. Deshalb gibt es im Morgengebet einen Satz, der in den anderen fehlt: ›Das Gebet ist besser als der Schlaf.‹«
    Aber für uns zwei ist der Schlaf vielleicht besser als das Gebet, dachte Ella. Wenn wir doch nur zusammen einschlafen könnten. Sie sehnte sich nach einem unbeschwerten, ungestörten Schlummer, so märchenhaft wie der Schlaf von Dornröschen – hundert Jahre in völliger Gefühllosigkeit, um den Schmerz zu lindern.
    Kurz darauf endete der Gebetsruf, und sein Nachhall verebbte in zurückweichenden Wellen. Als der letzte Ton verklungen war, fühlte sich die Welt auf sonderbare Weise sicher, aber auch unerträglich still an. Ein Jahr waren sie nun schon zusammen. Ein Jahr voller Liebe und Achtsamkeit. Die meiste Zeit über hatte Aziz sich gut genug gefühlt, um mit Ella weiterzureisen, doch in den letzten zwei Wochen war seine Gesundheit zusehends geschwunden.
    Ella betrachtete ihn, während er wieder einschlief. Seine Züge wirkten heiter und waren so unglaublich klar. Dann kehrte die Angst zu ihr zurück. Tief aufseufzend verließ sie das Zimmer. Sie schlenderte durch Gänge, die alle in Grüntönen gestrichen waren, und betrat Stationen, in denen sie alte und junge Patienten, Männer und Frauen sah, einige bereits auf dem Weg der Besserung, andere, deren Kräfte nachließen. Auch wenn sie sich von den fragenden Blicken der Leute nicht einschüchtern lassen wollte, hoben ihr blondes Haar und ihre blauen Augen ihre Fremdartigkeit hervor. Noch nie hatte sie sich irgendwo so fehl am Platz gefühlt. Allerdings war sie auch nie viel gereist.
    Wenig später saß sie am Brunnen des kleinen, idyllischen Krankenhausgartens. In der Mitte des Brunnens ragte die Statue eines kleinen Engels empor, und an seinem Grund funkelten einige Silbermünzen, jede mit dem heimlichen Wunsch eines Menschen versehen. Sie kramte in ihrer Tasche nach einer Münze, fand aber nur vollgekritzelte Zettel und einen halben Müsliriegel. Als ihr Blick auf die Erde fiel, sah sie vor sich mehrere glatte, schwarz glänzende Steine. Sie hob einen auf, schloss die Augen, warf ihn in den Brunnen und murmelte dabei einen Wunsch, obwohl sie im selben Moment wusste, dass er nicht in Erfüllung gehen würde. Der Stein traf den Rand des Brunnens, prallte ab und landete mitten auf dem Schoß des steinernen Engels.
    Aziz, dachte sie, würde es als ein Zeichen betrachten.
    Als sie eine halbe Stunde später ins Zimmer zurückkehrte, standen ein Arzt und eine junge Krankenschwester mit Kopftuch da, und das Laken war über Aziz’ Kopf gezogen.
    Er war gestorben.
    Aziz wurde in Konya begraben, wie um auch damit auf den Spuren seines geliebten Rumi zu wandeln.
    Ella traf alle Vorbereitungen. Sie plante alles bis ins Detail, vertraute aber auch darauf, dass Gott ihr helfen würde, wenn sie es nicht allein schaffte. Als Erstes suchte sie die Grabstelle aus – unter einer riesigen Magnolie auf einem alten moslemischen Friedhof. Dann engagierte sie Sufi-Musiker, die die Ney spielen sollten, und lud Aziz’ Freunde auf der ganzen Welt per E-Mail zum Begräbnis ein. Zu ihrer Freude konnten etliche von ihnen kommen. Sie reisten von so fernen Orten wie Kapstadt, St. Petersburg, Murshidabad und São Paulo an. Ein Kollege von Aziz war darunter, ein Fotograf, aber es erschienen auch Wissenschaftler, Journalisten, Schriftsteller, Tänzer, Bildhauer, Geschäftsleute, Bauern, Hausfrauen und Aziz’ Pflegekinder.
    Es war eine aufwühlende und doch fröhliche Zeremonie im Beisein von Menschen aller Glaubensrichtungen. Sie feierten seinen Tod, so wie er es gewollt hätte. Die Kinder spielten selig vor sich hin, ohne dass die Erwachsenen dauernd ein Auge auf sie hatten. Ein mexikanischer Dichter verteilte pan de los muertos , und ein alter schottischer Freund von Aziz bewarf alle mit Rosenblütenblättern, die wie Konfetti auf sie
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