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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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Kette der Herzen miteinander verbunden. Zerbricht eines der Glieder, so wird an anderer Stelle ein neues hinzugefügt. Für jeden verstorbenen Schams-e Tabrizi wird in einer anderen Zeit unter einem anderen Namen ein neuer erstehen.
    Die Namen ändern sich, sie kommen und gehen, doch das Wesen bleibt immer gleich.

ELLA
    KONYA, 7. SEPTEMBER 2009
    B eschwerlich war die Nacht gewesen, die sie auf einem Plastikstuhl neben seinem Bett schlafend verbracht hatte. Jetzt öffnete sie plötzlich die Augen und lauschte auf ein ungewohntes Geräusch. Irgendjemand sprach unbekannte Wörter in die Dunkelheit hinein. Dann wurde ihr klar, dass es von draußen kam, es war der Gebetsruf. Gleich würde ein neuer Tag beginnen. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es auch das Ende von etwas bedeutete.
    Jeder, der den Ruf zum Morgengebet zum ersten Mal gehört hat, wird, wenn man ihn fragt, dasselbe sagen: dass dieser Ruf wunderschön, bedeutungsvoll und rätselhaft ist. Dass er aber zugleich etwas Unheimliches, fast Furchterregendes an sich hat. Genau wie die Liebe.
    Dieser Ruf riss Ella in der Stille der Nacht aus dem Schlaf. Sie blinzelte ein paarmal, bis sie begriff, dass die Männerstimme, die durch den Raum klang, durch das geöffnete Fenster hereindrang. Eine volle Minute dauerte es, bis sie wieder wusste, dass sie nicht mehr in Massachusetts war. Das hier war nicht das große Haus, in dem sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern gewohnt hatte. Das alles gehörte in eine andere Zeit – in eine Zeit, die so fern und verschwommen war, dass sie sich nicht wie ihre eigene Vergangenheit, sondern wie ein Märchen anfühlte.
    Nein, sie war nicht in Massachusetts, sondern in einer völlig anderen Gegend der Welt, in einem Krankenhaus in der türkischen Stadt Konya. Und der Mann, dessen tiefe, regelmäßige Atemzüge den Ruf zum Morgengebet begleiteten, war nicht ihr Ehemann, mit dem sie zwanzig Jahre lang verheiratet gewesen war, sondern ihr Geliebter, dessentwegen sie David an einem sonnigen Tag im letzten Sommer verlassen hatte.
    »Willst du allen Ernstes für eine Beziehung ohne jede Zukunft deinen Mann verlassen?«, hatten ihre Freundinnen und Nachbarinnen sie immer wieder gefragt. »Und was ist mit den Kindern? Glaubst du, sie würden dir das jemals verzeihen?«
    Damals hatte Ella gelernt, dass in den Augen der Gesellschaft nur eines noch schlimmer war, als den eigenen Mann für einen anderen zu verlassen: wenn eine Frau ihre Zukunft für die Gegenwart aufgab.
    Sie knipste die Tischlampe an und ließ im weichen, bernsteingelben Licht den Blick durch den Raum schweifen, als müsste sie nachsehen, ob sich auch wirklich nichts verändert hatte, seit sie wenige Stunden zuvor eingeschlafen war. Sie saß in dem kleinsten Krankenhauszimmer, das sie je zu Gesicht bekommen hatte – allerdings waren das auch nicht viele. Das Bett nahm den größten Teil des Raumes ein. Alles andere war um dieses Bett gruppiert – ein Holzschrank, ein niedriger, quadratischer Tisch, ein zusätzlicher Stuhl, eine leere Vase, ein schwenkbares Tablett am Bett mit verschiedenfarbigen Pillen sowie dem Buch, das Aziz seit Beginn dieser Reise las: Rumi und ich .
    Vier Tage zuvor waren sie in Konya eingetroffen und hatten die ersten Tage wie ganz normale Touristen mit der Besichtigung von Baudenkmälern, Museen und Grabungsstätten verbracht. Sie hatten sich den Bauch mit den Spezialitäten der Region vollgeschlagen und alles Mögliche, egal wie gewöhnlich oder albern es war, fotografiert. Alles war in Ordnung gewesen, bis Aziz während des Mittagessens in einem Restaurant zusammenbrach und sofort ins nächste Krankenhaus gebracht werden musste. Seitdem hatte sie hier an seinem Bett ausgeharrt, ohne zu wissen, was sie erwartete. Sie hatte sich an eine Hoffnung geklammert, der sie selbst nicht traute, und zugleich bei sich mit Gott gehadert, weil er ihr die so spät im Leben geschenkte Liebe so früh wieder nahm.
    »Schläfst du, mein Liebster?«, fragte sie. Sie wollte ihn nicht stören, aber jetzt musste er einfach wach werden.
    Er gab nicht mehr von sich als ein kurzes Innehalten seines Atems, einen Ton, der im Rhythmus fehlte.
    »Bist du wach?«, fragte sie flüsternd und indem sie die Stimme hob.
    »Jetzt schon«, sagte Aziz langsam. »Was ist? Konntest du nicht schlafen?«
    »Das Morgengebet …« Ella stockte, als erklärte es alles: seinen Zustand, der sich immer mehr verschlechterte, ihre wachsende Angst, ihn zu verlieren, und die völlige Verrücktheit der
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