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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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Vater. »Sie zerkrümelt das Königs-Ich zu Staub und bringt das Derwisch-Ich hervor. Nun, da Schams für immer fort ist, bin auch ich nicht mehr da. Ich bin kein Gelehrter oder Prediger mehr, sondern die Verkörperung des Nichts. Es ist meine Fana, hierin liegt meine Baqa.«
    Vor Kurzem klopfte ein rothaariger Händler an unsere Tür, der wie der übelste Lügner aussah und behauptete, er kenne Schams-e Tabrizi noch aus dessen lange zurückliegender Zeit in Bagdad. Und dann sagte er im Flüsterton, er schwöre, dass Schams am Leben und wohlauf sei und sich in einem indischen Aschram verstecke, wo er meditiere und auf den richtigen Zeitpunkt warte, um wiederaufzutauchen.
    Nicht einen Moment lang war im Gesicht dieses Mannes auch nur eine Spur von Wahrhaftigkeit zu erkennen, aber mein Vater verfiel in einen Freudentaumel und fragte ihn, was er für seine wunderbare Nachricht haben wolle. Da sagte der Händler ohne einen Funken Scham, als kleiner Junge habe er immer ein Derwisch werden wollen, aber da sein Leben eine andere Richtung eingeschlagen habe, würde er gern wenigstens den Kaftan eines so berühmten Gelehrten wie Rumi besitzen. Da holte mein Vater seinen Samtkaftan und schenkte ihn her.
    »Vater, wie konntest du diesem Mann deinen wertvollen Kaftan geben, wohl wissend, dass er log?«, fragte ich ihn, als der Händler gegangen war.
    Und mein Vater sagte: »Findest du, dass ein Kaftan ein zu hoher Preis für diese Lüge war? Bedenke, lieber Sohn, wenn er die Wahrheit gesagt hätte, wenn Schams wirklich am Leben wäre, dann hätte ich ihm mein Leben gegeben!«

RUMI
    KONYA, 31. OKTOBER 1260
    B ei den meisten Menschen verwandelt sich der Schmerz mit der Zeit in Trauer, aus der Trauer entsteht Ruhe, und die Ruhe geht über in Einsamkeit, in eine Einsamkeit so unermesslich und bodenlos wie die dunklen Ozeane. Heute jährt sich zum sechzehnten Mal der Tag, an dem Schams und ich einander vor dem Gasthof der Zuckerverkäufer trafen. Jedes Jahr ziehe ich mich am letzten Oktobertag in ein Alleinsein zurück, das mit jedem Tag schwerer wiegt. Ich begebe mich in eine vierzigtägige Tschilla und denke über die vierzig Regeln nach. Ich besinne mich auf jede einzelne und betrachte sie in Gedanken noch einmal, doch in den Weiten meines Geistes schimmert einzig Schams-e Tabrizi.
    Man glaubt, nicht länger leben zu können. Man glaubt, das Seelenlicht wäre ausgelöscht und für immer würde Finsternis herrschen. Doch wenn man von einer so undurchdringlichen Dunkelheit umgeben ist, wenn man beide Augen vor der Welt verschlossen hat, dann öffnet sich im Herzen ein drittes Auge. Erst dann wird einem bewusst, dass das Sehvermögen im Widerspruch zur inneren Erkenntnis steht. Kein Auge sieht so klar und scharf wie das Auge der Liebe. Der Trauer folgt eine andere Zeit, ein anderes Tal, ein anderes Ich. Dann sieht man den unauffindbaren Geliebten auf einmal überall.
    Du siehst ihn in dem Wassertropfen, der ins Meer fällt, in der Flut, die auf den zunehmenden Mond folgt, und im Morgenwind, der seinen frischen Duft verbreitet. Du siehst ihn in den Zeichen im Sand, die die Wahrsager deuten, in den winzigen Steinchen, die in der Sonne glitzern, im Lächeln des neugeborenen Kindes und im Pulsieren deiner Adern. Wie könntest du je sagen, Schams sei fort, wenn er doch überall ist und in allem?
    Tief in dem zähen Wirbel aus Kummer und Sehnsucht weile ich jeden Tag und jede Minute bei Schams. Meine Brust ist eine Höhle, in der Schams ruht. So wie der Berg ein Echo in sich birgt, trage ich Schams’ Stimme in mir. Von dem Gelehrten und Prediger, der ich einst war, ist nichts geblieben. Die Liebe hat mir alle Gewohnheiten und Gepflogenheiten genommen und mich dafür mit Dichtung erfüllt. Und obgleich ich weiß, dass Worte diese meine innere Reise nicht zu beschreiben vermögen, glaube ich an Worte, bin ich ein Wortgläubiger.
    Zwei Menschen haben mir durch meine schlimmsten Tage geholfen: mein ältester Sohn und ein Heiliger namens Saladin, der Goldschläger. Während ich ihm bei der Arbeit in seinem kleinen Laden zuhörte, wo er Gold zu makellosen Blättchen schlug, hatte ich eine wundervolle Eingebung, wie ich den Tanz der kreisenden Derwische zur Vollendung führen könnte. Der Rhythmus, der aus Saladins Werkstatt drang, entsprach dem Puls des Universums, dem Göttlichen Rhythmus, von dem Schams gesprochen hatte und der ihm so wichtig war.
    Nicht lange danach heiratete mein älterer Sohn Saladins Tochter Fatima, die mich ihrer
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