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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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Augenblick und mit jedem nächsten Atemzug sollte man sich immer und immer wieder erneuern. Es gibt nur einen Weg, um in ein neues Leben hineingeboren zu werden: indem man vor dem Tod stirbt.«

ALADDIN
    KONYA, APRIL 1248
    B estürmt von inneren Zweifeln änderte ich von einem Moment zum nächsten meine Meinung darüber, wie ich mich den anderen gegenüber verhalten sollte. Drei Wochen nach Schams’ Tod fand ich endlich den Mut, mit meinem Vater zu reden. Er saß allein im Schein des Feuers in der Bibliothek, reglos wie eine Alabasterstatue. Über sein Gesicht zuckten Schatten.
    »Darf ich mit dir sprechen, Vater?«, fragte ich.
    Er hob den Blick so langsam und benommen, als müsste er aus einem Meer der Entrücktheit an die Küste zurückschwimmen, und schwieg.
    »Vater, ich weiß, dass du denkst, ich hätte etwas mit Schams’ Tod zu tun, aber ich versichere dir …«
    Da hob mein Vater den Finger und unterbrach mich. »Zwischen dir und mir, mein Sohn, sind alle Worte versiegt. Ich will nichts von dir hören und habe dir auch nichts mitzuteilen.«
    »Bitte sag das nicht! Lass es mich erklären«, flehte ich ihn mit zitternder Stimme an. »Ich schwöre bei Gott, ich war es nicht. Ich kenne die Leute, die es getan haben, doch ich war es nicht.«
    Mein Vater schnitt mir noch einmal das Wort ab. »Mein Sohn«, sagte er mit kummervollem Unterton, der sich rasch in die eisige Ruhe dessen verwandelte, der sich der schrecklichen Wahrheit fügt. »Du sagst, du seist es nicht gewesen, aber an deinem Saum klebt Blut.«
    Ich zuckte zusammen und sah an meinem Gewand hinab. War es tatsächlich so? War das Blut jener Nacht noch an mir? Ich betrachtete den Saum, die Ärmel, meine Hände und Fingernägel. Alles war sauber. Als ich den Kopf wieder hob, stand ich Auge in Auge mit meinem Vater, und erst da verstand ich, dass er mir eine Falle gestellt hatte.
    Ich hatte unachtsamerweise nach Blut an meinem Saum gesucht und mich damit verraten.
    Es ist wahr. Ich bin an jenem Abend zu ihnen in die Schenke gegangen. Von mir wusste der Mörder, dass Schams jede Nacht im Hof zu meditieren pflegte. Und als Schams in der Nacht im Regen zu seinem Mörder sprach, gehörte ich zu den sechs Männern, die vor der Gartenmauer lauschten. Und als wir zum Angriff schritten, weil es kein Zurück gab und der Mörder die Sache viel zu langsam anging, wies ich ihnen den Weg in unseren Hof. Aber mehr tat ich nicht. An dem Kampf war ich nicht beteiligt. Der Angriff ging von Baybars aus, und Irschad und die anderen halfen ihm. Und als sie in Panik gerieten, erledigte Schakalkopf den Rest.
    Hinterher ging ich den Augenblick im Geiste so viele Male durch, dass ich nicht mehr zu sagen vermag, was sich wirklich abgespielt hat und was meiner Fantasie entsprang. Ein paarmal beschwor ich in mir die Erinnerung daran herauf, wie Schams sich aus unseren Händen befreite und in die pechschwarze Nacht entkam, und dieses Bild war so eindringlich, dass ich es fast für wahr hielt.
    Er ist fort, und doch hat er überall seine Spuren hinterlassen. Tanz, Dichtung, Musik und alles, was, wie ich glaubte, mit ihm verschwinden würde, sind fest mit unserem Leben verwoben. Mein Vater ist ein Dichter geworden. Schams hatte recht. Sobald einer der beiden Töpfe zerbrach, ging auch der andere in Scherben.
    Mein Vater war immer ein liebevoller Mensch gewesen, der alle annahm ungeachtet ihrer Religion. Nicht nur den Moslems begegnete er freundlich, sondern auch den Christen, Juden und sogar den Heiden. Als Schams in sein Leben trat, wurde sein Liebeskreis so riesig, dass er selbst die Elendsten der Gesellschaft umfasste – Huren, Trinker und Bettler, den menschlichen Abschaum.
    Ich glaube, er könnte sogar Schams’ Mörder lieben.
    Nur einen Menschen vermochte er bis heute nicht zu lieben: seinen Sohn.

SULTAN WALAD
    KONYA, SEPTEMBER 1248
    B ettler, Säufer, Huren, Waisen, Diebe … Er verteilt all sein Gold und Silber an Verbrecher. Seit jener fürchterlichen Nacht ist mein Vater nicht mehr derselbe. Alle sagen, er habe den Verstand verloren vor Kummer. Wenn man ihn fragt, was er da mache, erzählt er die Geschichte des Araberkönigs Imra al-Qais, der äußerst beliebt, berühmt für seinen Reichtum und sehr schön war, sein vollkommenes Leben jedoch von einem Tag auf den anderen hinter sich ließ. Er kleidete sich in Derwischgewänder, gab seinen ganzen Reichtum preis und wanderte umher.
    »Das macht die Trauer mit dem, der einen geliebten Menschen verloren hat«, sagt mein
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