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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
Autoren: Elif Shafak
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Klugheit und Wissbegier wegen an Kimya erinnerte. Ich lehrte sie den Koran. Ich gewann sie so lieb, dass ich sie schließlich als mein rechtes Auge bezeichnete und ihre Schwester Hediyya als das linke. Denn das hat meine liebe Kimya mir vor langer Zeit bewiesen: dass Mädchen ebenso gute Schüler sind wie Knaben – wenn nicht sogar bessere. Ich halte jetzt Sema-Versammlungen für Frauen ab und lege es den Sufi-Schwestern ans Herz, diesen Brauch fortzuführen.
    Vor vier Jahren begann ich das Masnawi vorzutragen. Die erste Zeile kam mir eines Tages ganz nebenbei in der Morgendämmerung, als ich zusah, wie das Sonnenlicht die Dunkelheit durchschnitt. Seitdem ergießen sich die Gedichte ganz ohne mein Zutun aus meinem Mund. Ich schreibe sie nicht nieder. Saladin war es, der diese frühen Verse sorgsam aufzeichnete. Und mein Sohn fertigte von jedem einzelnen eine Abschrift an. Dank dieser beiden haben die Gedichte überlebt, denn wenn man mich heute bäte, irgendeines zu wiederholen, so könnte ich es wohl nicht. In der freien wie in der gebundenen Rede erscheinen mir die Worte scharenweise und verschwinden dann wieder so unvermittelt wie die Zugvögel. Ich bin nicht mehr als die Wasserstelle, an der sie auf ihrem Weg in wärmere Länder eine Weile bleiben und rasten.
    Bevor ich mit einem Gedicht beginne, weiß ich nie, was ich sagen werde. Es kann lang werden oder kurz. Ich plane es nicht. Und wenn das Gedicht fertig ist, bin ich wieder still. Ich lebe im Schweigen. Und »Schweigen«, Khamush, ist einer der beiden Namen, die ich anstelle meines eigenen ans Ende meiner Ghaselen setze. Der andere ist Schams-e Tabrizi.
    Die Welt dreht und verändert sich mit einer Schnelligkeit, die wir Menschen weder bestimmen noch verstehen können. 1258 fiel Bagdad in die Hände der Mongolen. Die Stadt, die sich immer mit ihrer Wehrhaftigkeit und ihrem Glanz gebrüstet hatte und der Mittelpunkt der Welt zu sein beanspruchte, wurde besiegt. Im selben Jahr starb Saladin. Meine Derwische und ich hielten ein großes Fest ab; fröhlich tanzend und singend zogen wir mit Flöten und Trommeln durch die Straßen, denn so ziemt es sich für die Bestattung eines Heiligen.
    1260 waren es die Mongolen, die eine Niederlage erlitten. Die Mamluken aus Ägypten schlugen sie. Aus den Siegern von gestern wurden die Besiegten von heute. Jeder Sieger neigt zu der Annahme, er werde ewig siegreich sein. Jeder Besiegte neigt dazu, die ewige Niederlage zu fürchten. Doch beide irren aus demselben Grund: Alles verändert sich, nur das Gesicht Gottes nicht.
    Nach Saladins Tod ging mir Husam, der Schüler, der auf dem spirituellen Pfad so schnell fortgeschritten und so gereift ist, dass er inzwischen von allen Husam Celebi genannt wird, bei der Niederschrift der Gedichte zur Hand. Er ist der Schreiber, dem ich das gesamte Masnawi diktiert habe. Wenn man Husam fragt, wer er sei und was er mache, gibt er, bescheiden und großzügig, wie er ist, auf der Stelle die Antwort: »Ich bin ein demütiger Anhänger von Schams-e Tabrizi. Ja, das bin ich.«
    Nach und nach wird man vierzig, fünfzig und sechzig und fühlt sich mit jedem Jahrzehnt vollkommener werden. Man muss weitergehen, auch wenn es keinen Ort der Ankunft gibt. Unablässig und erbarmunglos dreht sich das Universum und mit ihm die Erde und der Mond, aber diese Bewegung geht von nichts anderem aus als von einem Geheimnis, das wir Menschen in uns bergen. Mit diesem Wissen werden wir Derwische unseren Weg durch die Liebe und den Herzenskummer tanzen, auch wenn niemand versteht, was wir tun. Wir werden inmitten eines Handgemenges genauso tanzen wie in einem großen Krieg. Wir werden tanzen in unserem Schmerz und unserer Trauer, in Freude und Hochgefühl, allein und gemeinsam, so langsam und so schnell wie die Strömung des Wassers. Wir werden in unserem Blut tanzen. Allem, was im Universum war und ist, ist vollkommene Harmonie und ein feines Gleichgewicht eigen. Die Punkte verändern sich ohne Unterlass und ersetzen einander, aber der Kreis bleibt undurchbrochen. Regel Nummer neununddreißig: Während sich die Teile verändern, bleibt das Ganze sich immer gleich. Für jeden Dieb, der die Welt verlässt, wird ein neuer geboren. Und jeder anständige Mensch, der stirbt, wird durch einen neuen ersetzt. Auf diese Weise bleibt nichts gleich, aber es ändert sich auch nichts wirklich.
    Für jeden Sufi, der stirbt, wird irgendwo ein anderer geboren.
    Unsere Religion ist die Religion der Liebe, und wir sind alle in einer
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