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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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tot?«, flüsterte sie.
    Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Er atmet noch. Aber …« Statt den Satz zu Ende zu sprechen, senkte auch er den Blick.
    »Aber was?«
    Der Arzt gab keine Antwort. Sie schob ihn beiseite.
    »Michael …«
    Als sie sich auf den Hocker setzte, hörte sie plötzlich ihren Namen.
    »Christiane …«
    Die Stimme erreichte sie wie aus einer anderen Welt. Aus Angst, dass ihre Sinne sie getäuscht hatten, wagte sie kaum, ihren Mann anzuschauen.
    Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, dann schlug er die Augen auf.
    »Hast du den Sauerbraten warm gestellt?«, fragte er leise.
    »Michael!« Tränen schossen ihr in die Augen. »Gott sei Dank, mein Liebster, du lebst!« Sie beugte sich über ihn und bedeckte sein staubiges Gesicht mit Küssen.
    »Dann bist du mir also nicht böse?«, flüsterte er. »Ich meine, weil ich mal wieder die Zeit vergessen habe?«
    Sie richtete sich auf, und während die Tränen wie Sturzbäche aus ihren Augen flossen, nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände.
    »Mein Gott, ich hatte solche Angst. Warum kannst du auch nie pünktlich sein? Wenn du pünktlich gewesen wärst …«
    Ihre Stimme versagte, sie konnte nicht mehr weitersprechen. Sie musste gleichzeitig weinen und lachen, so glücklich war sie.
    »Ich weiß«, sagte er. »Aber dafür habe ich dir etwas mitgebracht … Etwas, das du unbedingt lesen musst …«
    Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie begriff. Dann sah sie das Bündel Papier auf seiner Brust, ein Manuskript, das er mit beiden Händen umklammert hielt. Durch den Schleier ihrer Tränen las sie den Titel auf dem beschmutzten Deckblatt:

    DIE VIERTE ZEUGIN
    Historischer Roman

ANMERKUNGEN ZUM EINSTURZ DES KÖLNER STADTARCHIVS

    A ls das Blaulicht nicht vorüberhuschte, sondern sich an den Wänden des Büros festklammerte, wusste ich, dass ein Unglück zu mir gekommen war. Ich trat ans Fenster, blickte auf die Nord-Süd-Fahrt: Feuerwehrwagen reihten sich dort, dick bereifte Fahrzeuge des Technischen Hilfswerks mit der Aufschrift »Katastrophenschutz« – wie viel Angst doch das Wort »Schutz« in einem solchen Zusammenhang machen kann. Eine Bombe, dachte ich. In der Baugrube für die Nord-Süd-Stadtbahn drüben am Waidmarkt haben sie wieder einmal eine Weltkriegsbombe gefunden.
    Aber ich glaubte selbst nicht recht daran. Hier stimmte etwas nicht. Es war still geworden. Keine Martinshörner mehr und auch kein Verkehr. Das ständige Brausen der Autos auf der Nord-Süd-Fahrt war verstummt. Ich trat ans Fenster. Die Straße war abgesperrt. Eine der größten Verkehrsadern der Stadt: abgeschnürt. Ich schaltete das Radio ein. Nach dem Musikstück sagte der Sprecher des WDR 2: »Wie Sie soeben in den Nachrichten gehört haben, ist das Gebäude des Kölner Stadtarchivs in der Severinstraße eingestürzt.«
    Ich wusste, dass das nicht stimmen konnte, denn dann hätte ich ja etwas hören müssen, das Archiv war nur wenige hundert Meter entfernt. Ich hielt es für eine voreilige Sensationsmeldung und war verärgert über den Sprecher. Er hätte auch sagen können: Ein Meteor hat den Kölner Dom dem Erdboden gleichgemacht. Natürlich ist so etwas möglich, aber es ist abwegig.
    »Die Nachbargebäude wurden ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Unter den Trümmern werden noch Menschen vermutet.«
    Nach diesen Worten wagte ich nicht mehr zu zweifeln – nach diesem Satz, den man sonst aus fernen Erdbebengebieten hörte. Ich sah die Staffeln der Suchhunde auf ihrem Weg zur Unglücksstelle. In 300 Metern Entfernung kämpften Menschen offenbar um ihr Überleben – oder waren sie sofort tot gewesen? So jedenfalls sagte man es, als man die beiden Opfer in den folgenden Wochen barg.
    Ein Haus, errichtet zum Schutz der Menschen und ihrer Habseligkeiten, war zur Hälfte eingestürzt, ein Archiv, errichtet zum Schutz von Dokumenten, war in sich zusammengebrochen. Zwei Gebäude waren zu einer Katastrophe geworden.
    Am Nachmittag verließ ich die Sperrzone, vorbei an Polizisten mit Funksprechgeräten und an Übertragungswagen verschiedener Fernsehanstalten. Mir kam eine Frau in roter Signalweste entgegen, ihr folgten etwa zwanzig Personen, Kameras geschultert, Mikrofone in der Hand, Handys am Ohr: eine Reisegruppe des Unglücks. Die Autorin in mir sah sich das alles sehr genau an, obwohl ich wusste, dass ich darüber nicht schreiben würde.
    Ich suchte die Unglücksstelle nicht auf, solange der Schuttberg sie dominierte. Erst zwei Monate später ging ich an
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