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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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Stadtarchiv entfernt lag, so dass Michael jeden Mittag zum Essen nach Hause kommen konnte. Doch immer wieder ließ er sie warten, weil er über irgendeiner Urkunde oder Akte die Zeit vergaß. Sie gönnte ihm ja die Freude an seinem Beruf, aber wenigstens heute hatte sie gehofft, er würde pünktlich sein – schließlich hatte sie sein Lieblingsessen gekocht, Sauerbraten mit Kartoffelklößen und Rotkohl. Während ein kleines Beben das Gebäude erschütterte, wahrscheinlich ein Gruß aus der Eifel, betrachtete sie das Elend in der Kasserolle. Ein Sauerbraten, so hatte sie von ihrer Mutter gelernt, konnte gar nicht lange genug garen. Doch das Exemplar, das da vor sich hinschmorte, hatte sich inzwischen derart in seine Bestandteile aufgelöst, dass davon nichts mehr übrig geblieben war als eine dickflüssige, faserige Pampe, aus der sie ein paar einsame Fettaugen anglotzten.
    Christiane nahm die Kasserolle vom Herd und stellte sie auf den Tisch. Wenn Michael um zwei Uhr immer noch nicht da war, würde sie eben ohne ihn anfangen.
    Als der große Zeiger auf fünf nach zeigte, war ihre Geduld am Ende. Verärgert öffnete sie den Topf mit den Klößen – ein gelbliches, ineinander verklebtes Kugelgebirge. Noch während sie ihren Teller auffüllte, hörte sie von der Straße lautes Geschrei, und im selben Moment begannen Sirenen zu heulen.
    Christiane sprang vom Tisch auf und trat ans Fenster.
    »Um Gottes willen …«
    Draußen sah es aus wie am 11. September. Eine riesige Staubwolke stieg über den Häusern empor, der Himmel war dunkel wie vor einem Gewitter. Die Leute rannten in Scharen davon, während gleichzeitig aus allen Richtungen Einsatzwagen der Feuerwehr und Polizei herbeigerast kamen.
    Irgendwo musste etwas Fürchterliches geschehen sein – aber was?
    Erst jetzt wurde Christiane gewahr, dass die Staubwolke sich genau über der Stelle erhob, wo sich das Stadtarchiv befand. Ohne den Herd auszuschalten, verließ sie die Wohnung und eilte im Laufschritt hinunter auf die Straße.
    Draußen war die Hölle los. Überall liefen panisch kreischende Menschen durcheinander, Dutzende von Rettungsfahrzeugen rasten mit heulenden Sirenen an ihr vorbei.
    »Was ist passiert?«, fragte Christiane einen Mann, der ihr entgegengestolpert kam.
    »Ein Haus ist eingestürzt! In der Severinstraße!«
    Sie ließ den Mann stehen und rannte los, so schnell sie konnte, in der verzweifelten Hoffnung, dass es nicht das Archiv war. Nicht das Archiv, bitte, lieber Gott, nur ja nicht das Archiv …
    Als sie die Kreuzung erreichte, erstarrte sie.
    Die Severinstraße sah aus wie nach einem Erdbeben. Eine ganze Häuserzeile war verschwunden, und dort, wo am Morgen noch das Stadtarchiv gestanden hatte, gähnte im Erdboden ein riesiger Krater, der umgeben war von Trümmerbergen. Davor hielten dicht an dicht die Einsatzzüge der Feuerwehr, Absperrungen wurden errichtet, und während die ersten Schaulustigen sich in die Nähe trauten, eilten Polizisten mit Spürhunden an den Leinen zum Unglücksort, um nach Verschütteten zu suchen.
    »Michael! Michael!«
    Halb wahnsinnig vor Angst rief Christiane immer wieder seinen Namen und rannte zwischen den vielen Leuten hin und her. Aber von ihrem Mann keine Spur.
    »Wo wollen Sie hin?« Ein Polizist trat ihr in den Weg, als sie dabei war, unter der Absperrung hindurchzuklettern.
    »Zu meinem Mann! Er arbeitet im Archiv! Sagen Sie mir, wo er ist!«
    »Bitte beruhigen Sie sich. Wir haben gerade erst mit den Bergungsarbeiten begonnen. Sicher werden wir Ihren Mann finden. Wie heißt er denn?«
    »Metzeler. Michael Metzeler.«
    Als sie den Namen nannte, schaute der Polizist zu Boden. Sein Schweigen kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
    »Bitte«, flüsterte sie. »Bitte sagen Sie nicht, dass mein Mann …«
    Als der Polizist endlich den Blick hob, wusste Christiane, was jetzt geschehen würde.
    »Kommen Sie bitte mit.«
    Die Gaffer traten tuschelnd beiseite, während der Beamte sie durch die Absperrung hindurch zu einem Krankenwagen führte. Wortlos nickte er einem Sanitäter zu, der ebenso wortlos den Wagenschlag öffnete.
    Christiane blieb stehen und schloss die Augen. Ihre Knie waren so weich, dass sie sich kurz am Arm des Polizisten festhalten musste.
    Als sie die Kraft hatte, die Augen wieder zu öffnen, sah sie ihren Mann. Er lag auf einer Trage, sein Gesicht war bleich und starr wie eine Maske.
    »Michael …«
    Ein Notarzt, der im Wageninneren saß, stand auf, um ihr Platz zu machen.
    »Ist mein Mann …
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