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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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Imhoffers nicht aufgehört zu brodeln, und jeder will wissen, welche Leichen denn noch in den so gut bestückten Kellern verborgen sind. Schließlich strömen sie nicht alle zu unserem immer noch nicht fertig gebauten Dom, um von den Leiden Christi zu hören. Abgesehen vielleicht von solchen treuen Seelen wie die kleine Magd Stingin, die bei den Imhoffs im Dienst war und jeden Tag mit den Knien den Kirchboden glattwetzt, seit ihr Herr gestorben ist. Dabei hat sie nie den Eindruck gemacht, sehr an ihm zu hängen. Wenn man sie ihre Herrschaft rühmen hörte, dann war es immer Agnes’ Name, den sie im Mund führte, und sie kam aus dem Loben und Preisen der Imhöffin gar nicht mehr heraus. Nur seit dem Tod des Andreas ist sie mit Stummheit geschlagen, wenn sie nicht gerade betet und den süßen Herrn Jesus um Gnade bittet. Aber Stingin ist eben eine Magd, und niemand achtet auf sie.
    Die Gevatterin dagegen, die jetzt die Kirche betritt, weiß, wie man Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dabei ist sie bloß mit einem Hutmacher verheiratet, die Gerlin Metzeler, nicht mit einem reichen Tuchhändler wie Andreas Imhoff. Aber so, wie sie die Treppe zum Dom hinaufschreitet, könnte sie eine Königin sein, hochgewachsen, elegant und unbekümmert darum, wessen Blicke auf ihr ruhen. Sie taucht beileibe nicht jeden Sonntag zur Messe auf, ganz wie ihr verstorbener Vater, ein unmöglicher Mensch mit einem heidnischen Namen aus dem fernen Norden, aber heute ist sie hier. Vielleicht, um ihrer Cousine zur Seite zu stehen, der Witwe Imhoff? Dabei sollen die beiden nicht immer ein Herz und eine Seele gewesen sein. Einige unserer Bürger beschwören, dass der verstorbene Andreas zuerst um Gerlin warb, ehe er sich für Agnes entschied, aber das ist nun schon Jahre her. Sie hat dann den Hannes Metzeler genommen, die blonde Gerlin, und ihm drei Söhne geschenkt, so dass sie wohl mit ihrem Schicksal zufrieden ist, auch wenn ihr Gatte häufiger die Schenken heimsucht, als es für sein Geschäft gut sein kann. Heute Morgen scheint er nüchtern zu sein, aber er geht einen halben Schritt hinter seiner Gattin und kneift die Augen zusammen im hellen Licht der Septembersonne. Es war wohl wieder eine lange Nacht gestern. Gerlin achtet nicht auf ihn. Stattdessen schaut sie sich um, als warte sie auf jemanden, und tatsächlich, da kommt sie: Agnes Imhoff, in dunklen Witwenkleidern, wie es sich geziemt, mit ihrer kleinen Tochter an der Seite.
    Einen Nachfolger für das Geschäft ihres Gemahls hat sie noch nicht gefunden, die Imhöffin, und sie hat auch keinen Bruder, Schwager oder Vater, der sie zur Messe geleiten könnte. Sie kommt alleine. Manche Leute fragen sich, wie lange das so bleiben wird: Eine reiche Witwe, schön und von angenehmer Wesensart, noch jung genug, um weitere Kinder zu bekommen – nach so einer Partie leckt sich doch jeder die Finger. Aber es gibt auch andere Gerüchte. Gerüchte, die besagen, dass es mit den Geschäften des Tuchhändlers Imhoff zum Schluss gar nicht so gut stand. Eine arme Witwe mit einem kleinen Gör, das zu jung ist, um verheiratet zu werden, und einem nur auf der Tasche liegt, ist natürlich eine ganz andere Angelegenheit. Zwar soll ihr der verstorbene Andreas vor seinem Tod sein gesamtes Hab und Gut überschrieben haben, doch wenn davon nichts mehr vorhanden ist, nützt es niemandem, nicht wahr? Ein Mann will schließlich wissen, wo er steht, und so gibt es niemanden, der sie anspricht, um ihr sein Geleit anzutragen.
    Manche Augen richten sich auf den Engländer, der so häufig bei Imhoffs ein- und ausging. So verbunden war er dem Ehepaar, dass er ihnen Geld geliehen haben soll, und nicht nur kleine Summen. Springt Richard Charman der Witwe Imhoff zur Seite, begrüßt er sie zumindest, wie es einem alten Gastfreund gebührt? Das tut er nicht. Stattdessen wendet er sich ab.
    Oh, teurer Leser, mir scheint, wir müssen das Schlimmste annehmen. Richard Charman will sein Geld zurückhaben und hält es offenbar nicht für möglich, auf friedliche Weise zu seinem Recht zu kommen. Meister Charman, da seht Ihr, wohin es führt, wenn man sein Vermögen für weltliche Dinge ausgibt. Hättet Ihr die gleiche Summe für den Bau des Doms gespendet, dann hätten wir alle etwas davon gehabt, und unsere Nachkommen noch dazu. Meint Ihr wirklich, dass die schöne Agnes es Euch wiedergeben kann? Immerhin war es ihr Gemahl, der Schulden machte. Wie es bei Euch Engländern zugeht, mag der Himmel wissen, aber hierzulande darf man treue
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