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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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die Stelle, die ich inzwischen so oft im Fernsehen und auf Zeitungsfotos gesehen hatte. Eine gewaltige Grube mit einem gewaltigen Dach darüber. In der Grube: Wasser. Unter den Trümmern und in dem Wasser: Archivalien aus mehreren Jahrhunderten, der Kölner Verbundbrief, Jugendamtsakten, das napoleonische Stadtsiegel, Steuerkarten, die Prozessakten des Falls Agnes Imhoff.
    Im Laufe der Zeit lernte ich, dass nicht das Wasser die Gefahr war, sondern die Pilze und Bakterien, die an der Luft auf das feuchte Papier warteten, sowie die alkalischen Salze, die das Papier zersetzten. Ich hörte von den aufwendigen Prozessen des Gefriertrocknens, und ich hörte Zahlen: Fünf Prozent des Archivguts sind auf immer verloren, die geretteten Stücke sind zu hundert Prozent restaurierungsbedürftig. Die Kosten dafür belaufen sich auf 400 bis 500 Millionen Euro (die Rettung der Anna Amalia Bibliothek forderte lediglich 30 Millionen Euro). Es wird voraussichtlich dreißig Jahre dauern, bis alle Archivalien gesichert sind.
    Für den April hatte ich mir vorgenommen, einen Termin im Stadtarchiv auszumachen, um etwa ein Dutzend Dokumente einzusehen – Abschlussrecherchen zu meinem Roman über Kölns napoleonische Zeit. Die Arbeit an diesem Roman hatte nun ein Ende gefunden, das ich mir nie hätte vorstellen können. Die Auswirkung, die der Einsturz des Archivs auf mein Projekt hatte, war jedoch unbedeutend angesichts zweier Toter, unbedeutend auch im Vergleich zu Doktor- und Forschungsarbeiten, denen innerhalb von Sekunden die Grundlagen entzogen worden waren.
    Das Gefühl meiner eigenen Ohnmacht war dennoch nicht unbedeutend, und ich wollte mich daraus lösen. Die Idee einer Benefizaktion nahm Gestalt an, und in Quo Vadis fanden sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die diesen Plan unterstützten und fortführten. So entstand die
LeseTaten -Reihe
: An sieben Orten in der Bundesrepublik lasen dreißig Autorinnen und Autoren im April 2010 unter Verzicht auf ihr Honorar aus ihren Werken. Fünf der Teilnehmer sind auch in dem vorliegenden Band vertreten. Die Einnahmen der Lesereihe wurden für eine Patenschaft verwendet. Die Wahl fiel auf das Gerichtsdokument zum Fall Agnes Imhoff.
    Damals wurden Zeugen gehört und Aussagen verglichen, und das wird auch heute wieder geschehen: Zurzeit werden drei Prozesse wegen des Archiveinsturzes vorbereitet. Von gefälschten Bauprotokollen ist die Rede, von fehlenden Sicherheitsstützen, von mangelnder Bauaufsicht und von übermäßigem Abpumpen von Grundwasser. Man wird über mögliche Baumängel sprechen, über Versäumnisse, vielleicht über Pfusch. Vielleicht wird es so ausgehen, wie Peter Meisenberg in seinem Radio-Feature befürchtete: »Am Ende sitzt das Grundwasser auf der Anklagebank«.
    Wie auch immer das Urteil lauten wird: Die Wiederherstellung der Archivalien wird das nicht beschleunigen, noch wird es auf wundersame Weise retten, was bereits aufgegeben werden musste. Die Grube wird man eines Tages zuschütten, das Gelände wird vielleicht wieder bebaut werden, aber noch klafft die Wunde. Sie ist sichtbar im Stadtbild und, wie die große Resonanz der Benefizaktion bei den Mitgliedern von Quo Vadis gezeigt hat: Der Verlust der Archivalien ist über die Stadtgrenzen hinaus spürbar – nicht nur für uns Autoren. Archive und Museen sind Orte, an denen eine Gemeinschaft die Grundlagen ihrer Identität hinterlegt. Es sind daher Orte, an denen die Vergänglichkeit unverrichteter Dinge vorübergehen soll. Diesmal aber hat sie zugeschlagen mit einer Genauigkeit, die nicht nur die Bürger Kölns wie einen Anschlag auf ihre Identität empfinden. Das Kölner Stadtarchiv war das größte seiner Art nördlich der Alpen, die Sammlung begann im Jahr 1322 im Kölner Rathaus, überdauerte Herrscherwechsel und Kriege, bewahrte Wappenbücher ebenso wie Büroquittungen.
    Die Katastrophe des Archiveinsturzes führte nicht nur in Köln, sondern auch auf internationalen Tagungen zu Diskussionen über die Kultur des Aufbewahrens und den gesellschaftlichen Stellenwert von Archiven. Wir können es uns nur leisten, etwas wegzuwerfen, weil es Orte gibt, an denen aufbewahrt wird, und weil ständig neu erschaffen wird. Wegwerfen und neu (be)schaffen, das ist der Herzschlag des Konsums. Dass auch die Literatur ein Konsumgut ist, war schon immer ihre Bürde. Die Archivalien aber waren keine Konsumgüter (mehr). Fast scheint es, als wäre ihnen dieser Anachronismus zum Verhängnis geworden. Sie ließen sich in ihren
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