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Die vierte Zeugin

Die vierte Zeugin

Titel: Die vierte Zeugin
Autoren: Tanja u.a. Kinkel , Oliver Pötzsch , Martina André , Peter Prange , Titus Müller , Heike Koschyk , Lena Falkenhagen , Alf Leue , Caren Benedikt , Ulf Schiewe , Marlene Klaus , Katrin Burseg
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hatte, sondern dass sie sogar eine Schlüsselrolle in einem der spektakulärsten Fälle gespielt hatte, die je vor einem Kölner Gericht im Laufe der Stadtgeschichte verhandelt worden waren.
    Michael Metzelers Jagdinstinkt war erwacht. Kaum hatte er die letzte Seite des Romans gelesen, eilte er in den Keller des Archivs, um sich alle verfügbaren Dokumente zu dem Fall zu beschaffen. Was war Dichtung? Was war Wahrheit? Mit einem Rollwagen, der vor uralten, verstaubten, zum Teil seit Jahrhunderten nicht mehr gelesenen Schriftstücken überbordete, kehrte er in sein Büro zurück. Seite für Seite verglich er das Manuskript mit den Originalakten. Das Familiendrama, die tödlichen Intrigen, die Lügen und politischen Verflechtungen, deren Fäden sich bis in das englische Königshaus und zum Hof Kaiser Karls V. spannten – fast alles ließ sich durch Gerichtsprotokolle und Dokumente belegen. Auch das Janusgesicht, das die Autoren von der Protagonistin gezeichnet hatten, schien den Tatsachen zu entsprechen. Agnes Imhoff war in allem, was sie tat, stets sowohl in Not geratene Witwe als auch Lügnerin. Allerdings ließen die Autoren im Verlauf der Geschichte immer mehr Sympathien für ihre Heldin erkennen, um sie am Schluss als eine Frau darzustellen, die Milde gegenüber ihrer Widersacherin und Großherzigkeit gegenüber der Witwe des Engländers zeigte. Gegen die Cousine Gerlin Metzeler, die im entscheidenden Verfahren Agnes Imhoff des Ehebruchs bezichtigt hatte, schienen sich die Autoren hingegen regelrecht verschworen zu haben, indem sie sie als eine missgünstige, arme Verwandte vorführten.
    Wurde diese Sicht der Dinge den zwei Frauen gerecht?
    Michael Metzeler wusste selbst nicht, was ihn mehr antrieb, Antwort auf diese Frage zu finden: sein Spürsinn als Archivar, sein wissenschaftliches Bemühen um Objektivität – oder die angekratzte Familienehre? Noch einmal ging er den Aktenberg durch, und endlich fiel ihm ein Dokument in die Hand, das die Heldin in einem abermals neuen und keineswegs günstigen Licht erscheinen ließ.
    Das Blatt mit der Kennziffer A 104 bezog sich auf einen Berufungsprozess, den das Ehepaar Agnes und Andreas Imhoff gegen Conrad Offenbach im Jahre 1532 geführt hatte, also zwei Jahre vor der Verhandlung, die im Roman aufgegriffen wurde. Daraus ging unzweifelhaft hervor, dass Agnes Imhoff schon einmal einen Schuldschein in betrügerischer Absicht unterschrieben hatte. Und auch in diesem früheren Fall waren die Häuser, die zur Begleichung des erlittenen Schadens dem Kläger zugesprochen werden sollten, längst an die Frau des Tuchhändlers überschrieben worden, so dass kein Ausgleich erfolgen konnte und der Betrogene leer ausgegangen war …
    Mit einer gewissen Genugtuung schaute Michael Metzeler auf die gezackten Risse, die sich im Laufe der Jahre an den Wänden seines Büros gebildet hatten. War Agnes Imhoff also doch nicht die selbstbewusste und großherzige Heldin gewesen, zu der die Romanautoren sie stilisiert hatten, sondern eine gemeine Betrügerin? Die aus Raffgier vor keinem Verbrechen zurückgeschreckt hatte? Und darum vollkommen zu Recht verurteilt worden war?
    Um sich Gewissheit zu verschaffen, beschloss er, sämtliche Schriftstücke ein drittes Mal durchzugehen, gründlich und unparteiisch, wie die Wissenschaft es verlangte. Doch kaum hatte er damit begonnen, knurrte sein Magen. Überrascht warf er einen Blick auf die Uhr. Um Gottes willen – schon fünf vor zwei! Dabei hatte er seiner Frau fest versprochen, pünktlich zum Mittagessen zu Hause zu sein. Eilig ordnete er die Seiten des Manuskripts zu einem Stapel. Er wollte Christiane den Roman unbedingt zeigen, im Gegensatz zu ihm
liebte
sie historische Romane, und wenn darin auch noch die eigene Verwandtschaft vorkam …
    Mit dem Manuskript in der Hand verließ Michael Metzeler den Schreibtisch. Aber er war noch nicht bei der Tür, als er plötzlich ein dumpfes Grollen hörte, das aus den Tiefen der Erde zu rühren schien, und während der Löffel in seiner leeren Kaffeetasse zu tanzen und zu klirren begann, bebte auf einmal der Boden unter seinen Füßen. Gelähmt vor Entsetzen, starrte Michael Metzeler auf die Mauerrisse, die an den Wänden wie Blitze in die Höhe kletterten …

    Typisch Michael! Für halb eins hatte Christiane das Mittagessen gerichtet, und jetzt wartete sie seit anderthalb Stunden auf ihren Mann. Sie war so froh gewesen, als sie eine Wohnung im Severinviertel gefunden hatten, die nur zwei Blocks vom
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