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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau
Autoren: Regula Stämpfli
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Erstaunliche daran ist, dass selbst Qualitätsblätter jeden biologistischen Verortungszwang kritiklos abdrucken. Wertvolle Zeilen werden für eine neue Scheinreligion »Erkenne Deinen Körper« ausgegeben. Ich empfinde das als ungehörig. Es geht nicht an, dass diese reine Ideologie des Körpers, der Menschlichkeit, uns richtiggehend kannibalisieren soll und auch von klugen Leuten völlig unkritisch weiterverbreitet wird. Schließlich druckt die SZ ja auch keine Rede des nordkoreanischen Führers ab! Wer beispielsweise küsst, weil er sich davon Sex verspricht, wird erotische Erfüllung kaum erleben. Wer Sex ohne Küssen treibt, übrigens auch nicht.

    Glücklicherweise sind seit der Finanzkrise diese Studien nicht mehr so flächendeckend akzeptiert wie in den zehn Jahren zuvor – mit Ausnahme der meisten Universitäten. Denn normale, lebendige Menschen stören sich immer mehr am starren, messbaren Menschenbild, das vor allem durch Chemie, griffige Coachingstrategien und die Verfeinerung des Ichs regelrecht konstruiert werden soll. Wir brauchen keine menschlichen Bilanzen! Weshalb Zahlen suchen, wo sie nicht vorhanden sein sollen? Liebe, Gefühle, Träume lassen sich nicht berechnen.

    Menschliches Verhalten in Häufigkeiten zu fassen, bedeutet im Kern, den Menschen aus der Kategorie Mensch heraus zu definieren. Denn was ist der Mensch? Unter vielen anderen Eigenschaften sind dabei Sprache und die damit verbundene Fähigkeit zur Imagination entscheidend. Menschen können immer mehr als die Summe ihrer Körperteile. Nun, die meisten jedenfalls. Doch derartige Studien wollen das Gegenteil beweisen. Sie stellen die Singularität der Menschen in Abrede. Wer Menschen statistisch vermisst, schafft sie im Endeffekt ab. Berechenbar sind nur Uniformen. Dass deshalb Küssen irritiert, ist nicht erstaunlich. Denn es gibt so viele Kussformen wie Menschen. Wenn immer mehr die Hormone, Gene, das Blut als »besonderer Saft« zu sprechen beginnen, verstummen die Menschen. Mögliche Gegenstrategien? Weiterküssen, sinnlich, voller Lebenslust, viel und vor allem: ohne nachzudenken, warum und wohin.

    Apropos Küssen: Kürzlich sah ich in Karlsruhe ein schönes Paar Anfang 40. Sie verabschiedeten sich hingebungsvoll. Sie hörten nicht auf, sich zu küssen, sich zu umarmen und sich anzulächeln. Sie verzauberten mit ihrer Sinnlichkeit den ganzen Bahnsteig.

    Dann traf es mich wie ein Blitz. Wie lange ist es her, dass Sie Menschen gesehen haben, die sich in aller Öffentlichkeit küssten, sich zart über die Gesichter strichen, sich umarmten?
Wann haben Sie sich zuletzt von Ihrem Liebsten ausgiebig verabschiedet? Die Bahnhöfe meiner Kindheit waren voll von küssenden, streitenden, lachenden Menschen. Italienische Großfamilien tummelten sich in gefühlvoller Dramatik. Babys wurden herumgereicht und geknuddelt. Da roch es auf den Bahnhöfen nach Leben, Liebe, Freude oder Trauer. Heute riechen unsere Bahnhöfe nach Putzmittel und sind – zumindest in Zürich – oft mit menschenfeindlichen Anti-Ausländer-Plakaten gepflastert.

    Die Menschen küssen sich nicht mehr sehr häufig. Wer lächelt, wird wie eine Außerirdische angestarrt. Kinder sind in Luxuskarossen verpackt; zwar noch sicht-, aber sicher nicht mehr berührbar. Gelebt, umarmt, laut gelacht, getanzt wird mehr und mehr privat, wenn überhaupt. Auf öffentlichen Plätzen gibt es kaum mehr Bänke zum Schmusen, zum Verweilen, zum Rumstaunen. Ziemlich grau ist unsere öffentliche Welt geworden. Das zärtliche Paar in Karlsruhe machte mir klar: Echte Küsse kann man nicht kaufen oder verkaufen. Deshalb gibt es sie immer weniger. Denn Geld regiert mittlerweile alles. Und ja, klar: Geld stinkt nicht nur nicht. Geld küsst eben auch nicht. Geld ist nicht sinnlich, und hier liegt der springende Punkt. Die Ent-Sinnlichung der Welt fällt mit der Hochstilisierung des Körpers zusammen und führt dazu, dass wir als Menschen ziemlich schnell unsere Urteilskraft und unseren Realitätssinn verlieren.

    Erkennen Sie, wie Zahlen Sexismen, Lustfeindlichkeit und Menschenbilder regelrecht konstruieren? Und zwar so eindrücklich, dass auch ich mich einigen Theorien nicht entziehen kann?

    Die alltägliche Überdosis einer Weltsicht, die die Menschen nach Männlein und Weiblein, nach Jung und Alt, nach erwerbs- und nicht erwerbsfähig, nach schön und nicht schön etc. unterteilt, hinterlässt überall ihre Spuren, vor allem in uns selbst. Ein Beispiel: Bis 2007 besaß ich nicht ein einziges Paar
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