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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau
Autoren: Regula Stämpfli
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sofort einen Output zu erwarten, ohne die Zielgruppe exakt zu definieren, ohne einen möglichen Folgeauftrag im Kopf zu haben, ohne die Presse einzuladen, ohne meine eigene Karriere zu pushen, sondern einfach um den Raum zu geben zu denken, zu reden, zu lachen und anschließend ein Glas Wein trinken zu dürfen, macht einige Menschen regelrecht aggressiv. Sie fühlen sich angegriffen, weil ihr Weltbild ausschließlich aus Ratings, Quoten und Ranglisten besteht.

Nun fragt sich die aufmerksame Zeitgenossin schon, weshalb sich denn die Studien trotz ihres Nullgehalts so großer Popularität erfreuen. Nun ja: Die Rückführung all meiner Probleme auf meinen Körper bringt durchaus ein gerütteltes Maß an Psychohygiene.
    Ich habe keinen Job? Klar doch, mit dem Aussehen auch kein Wunder.
    Ich bin eine Schulversagerin? Tja, mit den Eltern!
    Ich bin ungewollt Vater geworden? Das war nur mein Fortpflanzungsprogramm!
    Ich bin unausstehlich zu Mann und Kindern? Sorry, PMS!

    Toll. So sind wir doch alle entlastet. Denn Biologie ist alles und nichts. Sie ermöglicht Verantwortungslosigkeit. Sind wir unzulänglich, unglücklich, verhalten wir uns ekelhaft, haben wir immer eine Erklärung parat, nämlich die: Wir sind nicht verantwortlich. Wir sind nicht schuld: »My body made me do it!« schreien wir wie Geschwister, die streiten und auf den größeren Bruder zeigen.

    Sie finden keinen Partner? Das hat nichts mit Ihnen zu tun! Wie uns schon 1985 die »Mathematik der Liebe« erklärte, passen nur ganz bestimmte Typen zueinander und Sie fallen leider aus dem Durchschnitt.
    Sie sind keine gute öffentliche Rednerin? Da können Sie nichts dafür! Ihre Gene reden lauter als Sie, und wenn schon Ihre Mutter vor Angst fast starb, wird es Ihnen ebenso ergehen.
    Sie haben keinen guten Sex? Auch das liegt nicht an Ihnen, sondern eventuell an einer fehlenden Operation in ihrem Intimbereich.

    Sie machen als Frau in Deutschland weder richtig Kinder noch Karriere? Auch das liegt nicht etwa an den miefig-piefigen Strukturen des Herdprämienlandes, sondern daran, dass Sie im Markt von Angebot und Nachfrage zur falschen Zeit in Erscheinung treten.

    Der Psychoanalytiker Alfred Adler nennt diese Haltung die klassische Lebenslüge. Uns entlastet alles, was wir nicht uns selbst zuzuschreiben haben. Alfred Adler stellte fest, dass Patienten dazu neigen, das eigene Scheitern nicht wahrzunehmen. Immer war jemand anderer schuld für das eigene Versagen. Meistens die Mutter, manchmal der Vater, sehr oft die Schule, das fehlende Geld und und und. Wer nicht schuld ist, muss sich auch nicht schuldig fühlen. Er hat keine Verantwortung mehr. Deshalb weisen übergewichtige Menschen gerne darauf hin, dass sie erblich belastet sind. Sie weisen die Verantwortung, ihren Körper schlank zu halten, weit von sich. Verständlich, denn ansonsten müssten sie sich noch schlechter fühlen, als sie es in unserer auf Nullgrößen spezialisierten Gesellschaft eh schon tun.

    Alfred Adler beschrieb die klassische Lebenslüge vieler Menschen so, dass sie sich nur zu gerne einem »beruhigenden, narkotisierenden, das Selbstgefühl sichernden Strom« überlassen und die Verantwortung für sich selbst aufgeben. Jeder Versuch, den Patienten die Wahrheit zu zeigen, stößt auf heftigsten Widerstand. Deshalb erfreuen sich die Biologie-Studien großer Beliebtheit, denn gerade Frauen machen es sich im Bild des »Nicht-anders-Könnens, da man ja nicht anders darf«, gerne bequem. Dazu kommt: Die individuellen Lebenslügen sehen auf Prada-Schuhen ziemlich geil aus. Mit anderen Worten: Kompensationen gibt es bei Lebenslügen genügend – doch alle führen früher oder später zu einer leeren Kreditkarte. Zudem stacheln uns die Theorien an, alles zu tun, um wenigstens unsere errechneten Chancen zu maximieren. Und hier hilft Einkaufen. Denn jedes neue Paar Schuhe tröstet uns über unsere
schlechten Produktionsbedingungen hinweg. Zudem rechnen wir damit, dass mögliche Freundinnen, Partner und Arbeitskollegen gemäß herrschender Religion auch auf materielle Anreize reagieren ... also wird noch mehr gekauft.

    »Ich kaufe, also bin ich.« Das ist der entscheidende Punkt. Der Markt dankt es uns.

    So schicken uns die meisten Studien direkt zum flächendeckenden Konsum. Sie schicken uns zum Zahnarzt, damit wir alle dasselbe richtig vermessene Zahnpasta-Lächeln vorzeigen können, sie begleiten uns zum Aufspritzen von Falten, damit wir nicht so alt aussehen, wie wir uns fühlen, sie
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