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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau
Autoren: Regula Stämpfli
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selbst, nie tun würden. Ist Liebe als Bild letztlich ausschließlich die spannende Kombination menschlicher Körpersäfte, hat dies weitreichende gesellschaftliche, politische und kulturelle Folgen für die Menschen. Menschen ohne inneres Zwiegespräch zeichnen sich durch völlige Skrupellosigkeit aus. Sie weisen genau die Eigenschaften auf, die wir unmenschlich nennen. Sie sind jedoch – im naturwissenschaftlichen Bild gesprochen – mittlerweile völlig »normal«.

    Philosophisch gesehen ist das Selbst konstitutiv für das, was wir einen Mensch nennen. Das Selbst ist unteilbar. Es ist nicht in Einzelteile zerlegt. Darin unterscheidet sich das philosophische als sprechendes vom naturwissenschaftlichen als stummem
Menschenbild. Mit der Zerstückelung des Selbst wird – philosophisch gesehen – auch die Eigenverantwortung des Menschen zerstückelt. Eigene Integrität als kommunikatives Zwiegespräch mit sich selbst lässt sich nicht auseinanderdividieren. Sie manifestiert sich als sprechendes und nicht als stummes Zusammenspiel zwischen Natur und Kultur. Das Selbst als sprechend menschliche Qualität muss aber anders als in Reagenzgläsern gemessen werden. Doch dies ist den allmächtigen Zählmeistern der Gegenwart egal. Allein die sachdienlichen Hinweise werden noch erfasst.
    Die Unteilbarkeit des Selbst als menschliches Prinzip gegen Unmenschlichkeit ist ein Kernthema von Hannah Arendt in ihren Ausführungen über das Böse.

    »Das Selbst als Kriterium moralischen Verhaltens ist politisch eine Art von Ausnahme-Maß. (...) Das idiomatische ›stop and think‹ ist wirklich vollkommen richtig. Wann immer wir denken, halten wir das an, was wir gerade getan haben mögen, und solange wir Zwei-in-Einem sind, sind wir unfähig, etwas anderes zu tun als zu denken. (...) Das Lästige an den Nazi-Verbrechern war gerade, dass sie willentlich auf alle persönlichen Eigenschaften verzichteten, als ob dann niemand mehr übrigbliebe, der entweder bestraft oder dem vergeben werden könnte. Immer und immer wieder beteuerten sie, niemals etwas aus Eigeninitiative getan zu haben; sie hätten keine wie auch immer gearteten guten oder bösen Absichten gehabt und immer nur Befehle befolgt. Um es anders zu sagen: Das größte begangene Böse ist das Böse, das von Niemandem getan wurde, das heißt, von menschlichen Wesen, die sich weigern, Personen zu sein. Im konzeptionellen Rahmen dieser Betrachtungen können wir feststellen, dass Übeltäter, die sich weigern, selbst darüber nachzudenken, was sie tun, und die sich auch im Nachhinein gegen das Denken wehren – also sich weigern zurückzugehen und sich an das zu erinnern, was sie taten (...) –, es eigentlich versäumt haben, sich als ein Jemand zu konstituieren. Indem sie sturköpfig ein Niemand bleiben, erweisen sie sich als
unfähig, mit anderen zu kommunizieren, die, ob nun gut, böse oder in dieser Hinsicht unbestimmbar, zumindest aber Personen sind.« Hannah Arendt (Über das Böse, S. 92)

    Nach Nietzsche respektiert der Mann, der sich selbst verachtet, zumindest denjenigen in ihm, der verachtet! Was aber, wenn Nichts nur noch Biologie bleibt? Das wirklich Böse ist nach Hannah Arendt das, was uns sprachloses Entsetzen verursacht, das, was in uns nur noch den Satz kreiert: Dies hätte nie geschehen dürfen.
    Wie wichtig ein unteilbares Selbst im Zusammenhang von Gut und Böse ist, zeigt auch die erfolgreiche Hexen- und Zaubererserie »Harry Potter« von Joanne K. Rowling. The Dark Lord Voldemort ist nicht zuletzt deshalb die Inkarnation alles Bösen, weil er sein unteilbares Selbst für die Schwarze Magie aufteilt. Er verstaut und verdinglicht seine Seele in sieben Horcruxe. Damit entsorgt er sich aber seiner selbst. »You know who« kann seelenlos unaussprechlich Böses tun und stumme Macht leben. Doch die eigentliche Wahrheit, die der weise Schulleiter Dumbledore als »Liebe, Loyalität, Unschuld, Geschichten erzählen« beschreibt, beschert dem Herrscher des Bösen schließlich das Ende. Der Jugendroman »Harry Potter« nimmt damit den sokratischen Faden philosophischer Moralität auf, die mich hier im Zusammenhang mit der biologistischen Fixierung aller menschlicher Kommunikationsmöglichkeiten interessiert. Die sprachlose biologische Aufteilung der Menschen in neurologische Synapsen, hormonelle Gefühlsmomente oder genetische Dispositionen entspricht, philosophisch gesehen, einer normativen Weigerung der Menschen, mit sich und anderen zu kommunizieren. Damit wird die
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