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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau
Autoren: Regula Stämpfli
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führen uns in Wellness-Kuren, sie zeigen uns in Hochglanzzeitschriften, wie wir unser Image verbessern, und das Beste ist: Diese Studien lenken uns von der langweiligen Politik effizient ab, so dass wir alles »Mutti Merkel« überlassen. Diese Studien nehmen uns einerseits die Verantwortung und bestätigen gleichzeitig, dass Menschen sich ständig selbst hassen und sich minderwertig fühlen sollten. Kein anderes Wertesystem (ähnlich den meisten Weltreligionen) schafft es so brillant, sich direkt unter unserer Schädeldecke einzunisten. Oder wie erklären Sie sich den Irrsinn, dass Sie und andere Steuerzahler Milliarden für die Banken und ihre enormen Schulden berappen, während wir beim geringsten Vergehen unverzüglich zur Kasse gebeten werden?

    Damit die Hohepriester der Vermessung angemessen gehört werden, braucht es natürlich auch eine Kanzel, von der aus sie ihre Zahlenpsalmen über die gläubige Gemeinde ausgießen können.

    »Liebe gleich Sex«, »Sex gleich Körper« und »Körper gleich Biochemie« zeigt neben der psychologischen Reinigung aber gravierende politische und ethische Folgen. Ein derartiges Denkgebäude bringt den Menschen zum Schweigen und führt ihn zu Beziehungslosigkeit und Kälte. Schon der griechische Philosoph
Sokrates formulierte in der Auseinandersetzung, wie Menschen zueinander in Beziehung treten, den bemerkenswerten Satz: »Ich, der ich Einer bin.« Dieses Ich, die ich Eine bin, setzt viel Selbstliebe und Selbstgespräch voraus. Es entspricht dem christlichen: »Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst«. Jeder Mensch braucht sich selbst und die Beziehung zum Anderen.
    Die Aufforderung, den Nächsten zu lieben, hat damit die wichtige Voraussetzung, sich selbst zu lieben. Götz Aly zeigte in seinem eindrucksvollen Buch »Warum die Deutschen? Warum die Juden?«, dass das fehlende Selbstwertgefühl der Deutschen und deren Neid auf ihre jüdischen und deutschen Nachbarn wichtige Voraussetzungen für den Zivilisationsbruch und den organisierten Massenmord waren.
    Sie sehen: Was bei Mammutjägern noch lustig ist, kann bei den politischen Konsequenzen derartiger Denkkonstruktionen in menschenvernichtende Ideologien ausarten.

    »Ich, der ich Einer bin« ist also bei Sokrates die wichtigste Voraussetzung des Menschseins. Eine Überzeugung, die Sokrates schließlich auch mit dem Tod bezahlte. Denn es ging ihm um die Bewahrung der eigenen Integrität im Austausch mit anderen. Es ging Sokrates um den inneren Maßstab, dass er anderen Menschen nie antun würde, was er sich selbst nicht antun möchte. Sokrates’ Argument war zudem: Wer will und kann mit einem Übeltäter zusammenleben?
    Wenn ich nun aber im Glauben aufwachse, dass nicht ich, sondern meine genetische Disposition und mein Hormoncocktail für meine Handlungen verantwortlich sind, dann sind mir Freiheiten gegeben, die oft in der Hölle enden. Die US-Kultur mit ihrer »I am sorry«-Kultur verwischt sämtliche Urteilskraft und Selbstverantwortung. Der Doping-Held der Tour de France, Lance Armstrong, war erst kürzlich das beste Beispiel einer derartigen Unverantwortlichkeit. Lance Armstrong sagte zwar ungefähr zehnmal »sorry«, übernahm aber nicht wirklich Verantwortung, da er das beliebte Argument benutzte: »Ach, das
war doch üblich in den alten Zeiten« oder, wenn es brenzlig wurde, er sich nicht mehr erinnern konnte, was er nun wirklich gemacht habe. Selbstverantwortung wird im US-Rechtssystem auch nicht wirklich propagiert – im Gegenteil. Doch – wie gesagt – das Mensch-Sein erfordert genau das: Selbstverantwortung, das Zwiegespräch mit sich selber.

    Moderne, auf Materialismus und ein ausgeklügeltes Rechtssystem ausgerichtete Augen sehen das kaum mehr. So verschwindet das Gewissen. Damit aber eigentlich auch der Mensch selbst. Genau so argumentierte Hannah Arendt in ihrem »Eichmann in Jerusalem«. Wenn niemand verantwortlich sein will, ist die Menschheit der Willkür eines jeden Einzelnen und dessen Kaltblütigkeit übergeben. Adolf Eichmann versuchte, sich mit einem »Niemand« herauszureden, einem normalen Leben mit normalen Funktionen. Das ist tatsächlich die »Banalität des Bösen«.

    So wird das eigene Zwiegespräch und damit auch das Gewissen durch die Massenideologie des »My gene made me do it« oder »It’s the society’s fault« oder »I’m only human« ersetzt. Was dazu führt, dass Menschen Dinge tun, die sie, wären sie wirklich selbstbestimmt, d. h. als solche im Zwiegespräch mit sich
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