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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau
Autoren: Regula Stämpfli
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frohgemut, dass es ganz normal sei, wenn jüdische Menschen ihre Nase operieren wollen und sie dies eigentlich auch tun sollten. Mit »Nur die Schönsten überleben« rechtfertigt die Harvard-Psychologin ihre populäre Schönheitsreligion. Ihr Ex-Mann Steven Pinker haut in dieselbe Kerbe, nur geht es bei ihm nicht um Schönheit, sondern um Kriege. In seinem Bestseller rechnet der in den deutschen Medien hochangesehene Psychologe aus, dass die Welt und die Menschen in den letzten Jahrzehnten immer friedlicher geworden seien. Der Hirnforscher Gerhard Roth kümmert sich weder um Schönheit noch um Kriege, benutzt aber dieselben Methoden wie Etcoff und Pinker, um zum absurden Schluss zu gelangen, dass Verbrecher nie ihre eigenen Taten verantworten sollten. Denn aufgrund seiner Berechnungen gibt es so etwas wie den freien Willen des Menschen nicht. Deshalb plädiert Roth für die Abschaffung des Strafrechts und die Einweisung von Gesetzesübertretern in Umerziehungsanstalten.

    Wie begründen Etcoff, Pinker und Roth ihre Theorien? Richtig! Mit Statistiken, mit mathematischen Modellen, mit Durchschnitten und Korrelationen. Sie vermessen die Wirklichkeit anhand ihrer Theorien! Sie tun das übrigens so geschickt, dass sich die Wirklichkeit mit der Zeit dann auch ihren Theorien anpasst, statt umgekehrt. Sie sollten sich das so vorstellen: Ein Mann wedelt alle drei Minuten mit seinen Armen. Auf die
Frage, weshalb er dies tut, kommt: »Ich verscheuche die Elefanten«. Auf die Entgegnung: »Da sind doch keine Elefanten!« meint der Mann:«Eben. Das Wedeln hilft.«

    Je absurder sich Hirnforscher, Evolutionsbiologen, Attraktivitätsforscher, Gesundheitsmanager und vor allem auch Finanzanalysten gebärden, umso weniger wagt es irgendjemand, ihnen zu widersprechen. Denn sie tun alle so, als hätten sie die Wahrheit nicht nur mit Löffeln gefressen, sondern sie tatsächlich und objektiv auch vermessen.
    Und wir gläubige Konsumentinnen der neuen Vermessungsreligion hängen an ihren Lippen wie einst die langhaarigen Hippies an denen ihrer Gurus in Goa.

    Die Süddeutsche Zeitung berichtete über »Die Wissenschaft vom Küssen« und stellte fest: Männer tun es anders als Frauen und meistens nur, weil dahinter eine klare Absicht steckt, nämlich: Sex. Bisher meinte ich immer, jeder Kuss schmeckt anders – dies auch ohne Absicht.

    In der US-Studie wird Küssen aber nicht als intimer Austausch zweier sich liebender Menschen erfasst, sondern nur noch in Relation eines möglichen Geschlechtsverkehrs interpretiert. Das wäre ja alles nicht so schlimm, nur: Weshalb belästigt uns mit solchem Pseudointellektuellenmüll auch die Süddeutsche? Dass Amerikaner prüde sind, aber gerne den gröbsten Porno produzieren und konsumieren, ist hinlänglich bekannt. Dass sie keine »bisous« wie die Franzosen geben, auch. Alles Gründe genug, US-amerikanischen Gesellschaftsstudien von Evolutionsbiologen nicht zu trauen und trotzdem tun wir genau das, mehr noch, wir finanzieren mit unseren Steuergeldern solchen Ballast noch zusätzlich!

    Die Wortwahl in der Studienfragestellung sagte schon alles über das Resultat der Studie aus: »Wie lässt sich aus dem Küssen erotisch motivierte Lust ableiten?« Manchmal küssen
Menschen auch, weil sie nicht einfach geradewegs Sex wollen, sondern Lust zum Küssen haben.

    Küssen ist Ausdruck menschlicher Kommunikation – in all ihren Formen. Doch in der Wissenschaftssprache erscheint Küssen ohne Sex als ziemlich abstruse Verhaltensweise. Fast ist es so, als wollten die Naturwissenschaften uns das Küssen abgewöhnen.

    Weshalb können viele Populärwissenschaftler nicht mit einem Menschenbild leben, das sich nicht auszählen, messen und kategorisieren lässt? Welche Motivation steckt dahinter? Könnte es sein, dass das Küssen (und damit menschliche Kommunikation) statistisch erfasst und auf reine Fortpflanzung reduziert werden soll? Cui bono? Ah, vielleicht weil Küssen von der Arbeit ablenkt. Oder beim Pornogucken, wer weiß. Küssen ersetzt auch jene Medikamente, die Endorphine stimulieren – also schlecht fürs Pharmageschäft.

    So oder so: Solche Studien sind reine Ideologie. Sie sind Teil eines neuen Katechismus, der alle Menschen in ihrer »Ich-AG« in ein Gefängnis von Glücksuche, Konsum und Vollrausch einsperren soll. Studien, die im Körper jeden Lebenssinn verorten, haben die Wirkung, menschliche Regungen wie Mitgefühl, Humor, Leidenschaft und Leidensfähigkeit wegzurationalisieren.

    Das
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