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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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dann dachte er, dass sie damit vielleicht lieber bis zu einem Tag ohne Mikrowelle warten sollten. Mit dem wenigen, was sie hatten, mussten sie sparsam umgehen, für den Fall, dass es keine Lebensmittelverteilungen mehr geben würde und Vincent de Paul geschlossen bliebe. Es bestand immer noch die Chance, dass Julie mit dem Konvoi am 9 . Januar aufbrechen konnte, wenn sie beide bis dahin überlebten. Die Möglichkeit, er könnte als Erster sterben und Julie sich daraufhin das Leben nehmen, erfüllte ihn mit Entsetzen.
    Noch zwölf Tage, dachte er. Aber was waren schon zwölf Tage, nach allem, was sie durchgestanden hatten?
    Julie spülte die Teller und zog dann wieder ihre Handschuhe an. »Ich bin so weit«, sagte sie.
    Alex nickte. Er fühlte sich so stark wie seit Tagen nicht mehr. Vielleicht würden sie heute doch keinen Schlitten brauchen. Aber sollten sie Bri tatsächlich auf der Straße finden, könnten sie sie mit dem Schlitten nach Hause bringen. Er würde sie nicht einfach liegenlassen, wie er es bei Kevin getan hatte. Sie gehörte nach Hause.
    Schweigend liefen sie zum Aufzug am Ende des Flurs. Alex drückte den Knopf, und sie hörten, wie der Fahrstuhl gemächlich zu ihnen hochruckelte.
    »Komisch«, sagte Julie. »Eigentlich müsste er doch hier oben sein. Wir sind doch die einzigen Leute im Haus.«
    Schlagartig wurde Alex klar, was geschehen sein musste. »Guck nicht hin«, sagte er zu Julie, aber es war schon zu spät. Die Fahrstuhltür ging auf und der allzu vertraute Geruch des Todes schlug ihnen entgegen, noch bevor sie die Leiche ihrer Schwester entdeckten, die zu einer Kugel zusammengerollt auf dem Boden des Fahrstuhls lag.
    »Bri?«, rief Julie mit schriller Kinderstimme. »Bri, wach auf.« Sie bückte sich und rüttelte Bri an der Schulter. »Wach auf! Wach auf!«
    »Lass das, Julie«, sagte Alex. »Es ist zu spät.«
    »Das kann nicht sein!«, schrie Julie. »Wir müssen es weiter versuchen. Bri! Steh auf, Bri. Bitte!«
    Alex kniete sich neben Julie. Bri war schon seit Tagen tot. In der einen Hand hielt sie den Inhalator, in der anderen ihren Rosenkranz.
    »Sie ist friedlich gestorben«, sagte Alex. »Das ist mehr, als wir hoffen konnten.«
    »Aber warum?«, fragte Julie. »Warum ist sie denn überhaupt in den Keller gefahren?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Alex. Er beugte sich vor und küsste Bri auf die Wange. Ihre Augen waren geschlossen. Vielleicht war sie im Schlaf gestorben, dachte er. Vielleicht war Gott ihr, die Ihn doch so sehr geliebt hatte, gnädig gewesen.
    »Ich versteh das nicht«, beharrte Julie, als könnte das Verstehen irgendetwas an den Tatsachen ändern. »Ist sie hier im Aufzug gestorben? Meinst du, so war es?«
    »Ich nehme es an«, sagte Alex. »Letzten Donnerstag.« Mein Geburtstag, dachte er. Bri ist an meinem Geburtstag gestorben, nachdem sie Gott dafür gedankt hatte, dass ich noch am Leben war. »Aus irgendeinem Grund ist sie mit dem Aufzug in den Keller gefahren, und während sie noch drin war, muss der Strom ausgefallen sein.«
    Julie fuhr herum und starrte ihn voller Entsetzen an. »Meinst du, es hat lange gedauert?«, fragte sie. »Wusste sie, dass sie sterben würde? Hat sie darauf gewartet, dass wir sie retten?«
    »Das spielt doch jetzt alles keine Rolle mehr, Julie«, sagte Alex, obwohl er sich gerade genau die gleichen Fragen gestellt hatte. »Sieh sie dir an. Wie friedlich sie aussieht. Sie ist jetzt im Himmel, bei unserer dulce Virgen María, und schaut auf uns herab.«
    »Ja, das weiß ich«, sagte Julie. »Aber gleichzeitig liegt sie da, Alex, und sie fehlt mir so sehr, dass ich am liebsten auch sterben würde.«
    Alex schluckte schwer. »Geh rüber in die Wohnung und hol eine Decke«, sagte er. »Am besten diese Steppdecke, die sie so schön fand. Dann wickeln wir sie ein und bringen sie nach Hause.«
    Julie nickte. Sie küsste Bri die Hand, stand dann auf und ging.
    Alex strich Bri übers Haar und betete um Kraft. Immer wieder sagte er sich, dass es so besser war. Bri war nicht durch die Hand eines Menschen gestorben, ihre Leiche nicht achtlos irgendwo hingeworfen worden. Der Mond hatte sie umgebracht, nicht die Menschen. Er schlug ein Kreuz und dankte Christus für das, was Bri erspart geblieben war.
    Julie kam mit der Steppdecke zurück. Alex nahm sie ihr ab und wickelte Bri hinein.
    »Wir müssen den Aufzug nehmen«, sagte er. »Wir haben nicht genug Kraft, um sie so viele Stufen hinunterzutragen.«
    »Ich weiß«, sagte Julie. »Ich hab schon
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