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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Autoren: Eckart Klessmann
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mit seinen Kameraden in Kalwarja gefangengenommen. Wie üblich verloren die meisten den größten Teil ihrer wärmenden Kleidung, und nur die 49 Offiziere bekamen auf dem Marsch etwas Brot und einige Kartoffeln, die Mannschaften in den nächsten fünf Tagen gar nichts. Am 25. Dezember erreichte der Transport ein Dorf, »welches voll Baschkiren lag«. Die Offiziere wurden in einem Wirtshaus untergebracht, die Soldaten mußten auf dem Hof biwakieren. »Sei es Schikane der Eskorte oder wirklicher allgemeiner Mangel, kurz, wir erhieltenhier auch nicht das mindeste an Nahrungsmitteln; das Ächzen und Stöhnen der armen Hungernden dauerte die Nacht durch, und viele blieben hier tot. Ich ging des Nachts einmal auf den Hof und sah hier die greuliche Szene, daß Soldaten am Feuer Herzen von menschlichen Leichnamen brieten; daß dieses wahr, kann ich verbürgen, und noch schaudere ich vor dieser scheußlichen Nacht.«
    Am 28. erreichte die Kolonne Nowye Troki, in dessen Franziskanerkloster alle Gefangenen untergebracht wurden; die Mannschaften im Refektorium, die 49 Offiziere quetschte man in eine Zelle: »Wir mußten zwei qualvolle Stunden in den Eiskeller ähnlichen Kreuzgängen harren, endlich kam unser Offizier betrunken wie seine Mannschaft und brachte uns 49 Offiziere unter größter Verhöhnung und mit den niedrigsten Schimpfwörtern auf eine Zelle. Man denke sich in solch kleinem Raum eine derlei Menge Menschen, wo einer auf dem andern lag, wir bekamen nicht die mindeste Nahrung. Wir warteten bis 10 Uhr nachts. Endlich verlangten wir Wasser, allein vor der Tür stunden zwei besoffene Dragoner, welche vereint mit den Mönchen die Begehrenden auf die Köpfe schlugen und zurückstießen; nicht einmal zur Verrichtung der Not wurden wir hinausgelassen, so daß in kurzer Zeit unser Lokal verpestet wurde. Uns überfiel brennender Durst, den wir in etwas durch das Eis am Fenster und den vorliegenden Schnee befriedigten, und jeder war froh, etwas davon zu erhalten. Es war eine angstvolle Nacht; die Höhe war zu groß, um entspringen zu können, dann waren wir auch zu abgemattet. – Während wir fast mit Raserei kämpften, fraßen und soffen unser Offizier und dessen Mannschaft mit den Klosterbrüdern, denn wir hörten bis spät in die Nacht ihr Lärmen. Gegen Tags starben zwei französische Offiziere und ein holländischer. Um 8 Uhr wurden wir hinausgetrieben; auf den Kreuzgängen stunden sämtliche Mönche, die Stricke von ihren Kutten gelöst, und geißelten uns bis auf den Hof, wo die Dragoner uns erwarteten und auch mithalfen.«
    In Wilna wurden die Mannschaften von den Offizieren getrennt und in eine Kirche gebracht, wo die meisten in kürzester Zeit an Hunger und Krankheit starben. Die Offiziere kamen – gesunde wie kranke – in eines der als Lazarette dienenden Klöster, wo man ihnen zwar Brot gab, doch das Wasser verweigerte. Doch da nun der Zar nach Wilna kam, zahlte man den Offizieren rasch das längst fällige Unterstützungsgeld, so daß sie sich in der Stadt Lebensmittel kaufen konnten. Von Wilna aus ging der Marsch am 10. Januar weiter, geführt von einem kurländischen Dragoneroffizier mit einer Eskorte von 23 Soldaten, diszipliniert und freundlich; die 86 Offiziere hatte man vor dem Abmarsch noch mit neuer Kleidung, Pelzen und je zwei Paar Schuhen versorgt.
    Sechs Wochen später, am 23. Februar, kamen in Mohilew nur noch 42 Offiziere an. Hier mußte sich Leutnant Pahlen, ihr Transportführer, von ihnen verabschieden, und selbst die Dragoner-Eskorte erschien, um »uns noch ein herzliches Lebewohl« zu sagen. Dann brachte man die Offiziere in ein Lazarett in der Vorstadt, in dem bereits 1500 Gefangene – meist Polen und Italiener – untergebracht waren. »Im Innern war die größte Unreinlichkeit; die meisten litten an Nervenfieber (Typhus) und der Diarrhoe; an Abtritte war nicht zu denken, jeder leerte sich aus, wo er sich hinschleppen konnte. An eigentlichen Krankenwärtern war Mangel, und die Gesunderen mußten den Kränkeren beistehen. Ein russischer Oberarzt, der sich wenig um uns kümmerte, hatte die Aufsicht über das Ganze; unter ihm arbeiteten die sogenannten Unterärzte, meistens Ignoranten, wovon viele sich, um besser leben zu können, für Feldscherers ausgaben. Hinten auf dem Hofe wurde in großen Kesseln für das ganze Lazarett gekocht, worüber ein russischer Sergeant die Aufsicht hatte, ein roher, immer besoffener Kerl, welcher den ganzen Tag mit dem Kantschu herumlief und in die armen Kranken
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