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Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug

Titel: Die Verlorenen - Die Soldaten in Napoleons Russlandfeldzug
Autoren: Eckart Klessmann
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niemand Verpflegung bekam. Nachts lagerten sie unter freiem Himmel, und trotz eines Feuers war die Zahl der Toten groß, da in den ersten Dezembertagen die Temperaturen auf minus 30 und 35 Grad Celsius sanken. In Minsk angekommen, stand Meyers Entschluß zu fliehen fest. Er war Jude und bat nun seine Glaubensbrüder, ihm zur Flucht zu verhelfen. Doch mußten zunächst die Erfrierungen an seinem Fuß behandelt werden. Dies geschah in einem jüdischen Hospital. »Es lagen hier mehrere jüdische Militärpersonen, welche beinahe alle erfrorene Glieder hatten. Zu meiner großen Verwunderung und Freude sah ich hier den Doktor Löwenthal aus Hannövrisch-Minden, der im großen Militär-Hospital allhier angestellt war. Ihm hatte ich die Heilung meiner erfrorenen Füße und meiner Wunde zu verdanken.« Nach sieben Wochen wurde Meyer als geheilt entlassen. »Völlig polnisch gekleidet und mit einem starken, langen Bart versehen, hatte ich ganz das Ansehen eines polnischen Juden und war vor Verfolgung der Russen so ziemlich sicher.«
    Meyer verdiente seinen Unterhalt zuerst mit Betteln. Als dann auch in den Lazaretten von Minsk eine Typhusepidemie ausbrach, die täglich 30 Opfer forderte, bekam er die Aufgabe, die Leichen auf Schlitten vor die Stadt zu fahren, wo sie auf einem Feld verbrannt wurden, wie ja schon Wesemann beobachtet hatte. Zusammen mit einem Minsker Tabakhändler machte er sich Anfang 1813 in einem Schlitten nach Wilna auf, wobei ein jüdischer Leutnant aus Bonn für Meyers Mitnahme gesorgt hatte. In Wilna traf er mehrere Franzosen und einen italienischen Sergeanten, gleichfalls Juden, die sich wie Meyer mit Unterstützung durch die jüdische Gemeinde aus Rußland hinausschleusen ließen. Sieben Wochen dauerte es, bis er endlich unerkannt den Njemen überqueren konnte.Damit aber war er noch nicht in Sicherheit, denn die russische Armee stand bereits in Sachsen und kontrollierte alle Wagen, Meyer besaß aber keinen Paß. Den bekam er erst in Tikotschin (dort hatte er am 24. Juni 1812 Napoleons Kriegsproklamation gehört), der ihn als dort ansässigen Juden auswies. Schon glaubte er sich sicher, da verhaftete ihn in Breslau die preußische Polizei als mutmaßlichen Spion. Da er seine Geschichte der Wahrheit entsprechend erzählte, wurde er zwar vom Vorwurf der Spionage freigesprochen, doch als Angehöriger der westphälischen Armee zum Kriegsgefangenen erklärt. Hier brachte man ihn mit 600 anderen Gefangenen in einer Kaserne unter. Da Meyer fürchtete, alle Gefangenen könnten den Russen ausgeliefert werden, plante er die Flucht. Doch am 1. Juni 1813, gerade war die preußisch-russische Armee bei Bautzen von Napoleon geschlagen worden, rückten französische Truppen in Breslau ein und befreiten ihn. Man brachte Meyer zum westphälischen Generalstab, wo er seine Geschichte erzählen mußte und die Generale daraufhin für ihn so viel Geld sammelten, daß er sich »anständig dafür kleiden konnte«. In Dresden, schreibt er, »legte ich meinen polnischen Ornat und meinen Bart ab«. Von dort aus bekam er nach einem erholsamen Aufenthalt von mehreren Wochen einen Marschbefehl nach Kassel, wo er im Oktober 1813 eintraf. Da wurde gerade das erst sechs Jahre alte Königreich Westphalen aufgelöst und Meyer aus der Armee entlassen.
    Leutnant Friedrich Peppler wurde knapp drei Wochen nach den kurzen Momenten der Freude beim Zechen eines Fäßchen Rheinweins aus der Heimat am 6. Dezember bei Smorgonie gefangengenommen. Dabei hat man ihn nicht nur restlos ausgeplündert, sondern obendrein schwer mißhandelt. Hinausgetrieben in eine Kälte von minus 34 Grad Celsius, sammelte man 60 Offiziere »von den verschiedensten Nationen« und sperrte sie in eine viel zu enge Hütte, ohne Feuer, ohne Nahrung. In den nächsten Tagen wurden sie von Russen und Juden fast unablässig mißhandelt und erhielten aufihrem Marsch ostwärts nur halbgargekochte Bohnen. Am Nachmittag des 24. Dezember erreichte die Kolonne Minsk; von den 60 Offizieren lebten nur noch 27. »Kaum hatten wir die ersten Häuser von Minsk erreicht, als man uns den raffiniertesten Bosheiten von Juden und sonstigem Gesindel preisgab. Mit Schlägen und Stößen von allen Seiten angefallen, wurden einzelne von uns festgehalten und ihnen Gassenund Pferdekot gewaltsam mit den Worten in den Mund gesteckt: ›Da hat der Herr Brud.‹ Unter einem Hagel von Steinwürfen gelangten wir auf den Marktplatz, wo wir absichtlich zur Schau gestellt, in unserer armseligen Gestalt gleich
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