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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen
Autoren: Amanda Stevens
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Gedanken an die schmutzige Geschichte verschwendete. Auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie genoss Dr. Farrante ein nahezu gottgleiches Ansehen. Das Letzte, was Ree brauchte, war ein Feind, der so viel Macht und Einfluss hatte, dass er ihre berufliche Laufbahn zerstören konnte, noch bevor sie überhaupt begonnen hatte.
    Doch sie war nun einmal Jack Hutchins’ Tochter. Er war einer der besten Privatdetektive, die je in South Carolina eine Zulassung bekommen hatten, und es war noch gar nicht lange her, dass Ree unbedingt in seine Fußstapfen hatte treten wollen. Sie hatte davon geträumt, dass sie beide ihre eigene Detektei eröffnen würden, doch das war, bevor er sich in eine Klientin verliebt und wegen dieser Frau Rees Mutter verlassen hatte, die untröstlich darüber war. Bevor er bei seiner alten Firma gekündigt hatte und nach Atlanta gezogen war, um dort ein neues Leben anzufangen.
    Auch nach der Scheidung hatte Ree insgeheim noch von einer gemeinsamen Detektei geträumt, bis ihr klar geworden war, dass es für ihre Mutter nur wie ein weiterer Verrat gewesen wäre, wenn ihre Tochter sich mit dem Vater zusammengetan hätte. Also hatte sie sich mit Hauptfach Psychologie an der Emerson University eingeschrieben. Und jetzt war sie vierundzwanzig Jahre alt und stand kurz vor ihrem Masterabschluss.
    Es fiel ihr allerdings schwer, ihre natürliche Neigung zu unterdrücken. Die Neugier war ihr angeboren, und sie hatte ein Talent für kriminalistische Arbeit. Die Unterhaltung, die sie belauscht hatte, war wie eine Karotte, die vor ihrer Nase baumelte, und Ree stellte fest, dass sie sich darauf freute, endlich allein zu sein, damit sie die einzelnen Puzzleteile ordnen konnte – Miss Violet ... Ilsa Tisdale ... der Friedhof von Oak Grove ... eine Geheimgesellschaft namens The Order of the Coffin and the Claw .
    Seltsam, dass Ree von all den kuriosen Dingen, die sie mitangehört hatte, immer wieder nur an einen Namen denken musste: Amelia Gray . Vertraut und doch irgendwie verschwommen. Eine Erinnerung, die sie einfach nicht greifen konnte.
    Doch als sie die Doppeltür aufstieß, durch die man in den Südflügel gelangte, fiel es ihr auf einmal ein. Sie war in Trinity, einer kleinen Stadt im Norden von Charleston, mit einem Mädchen, das so hieß, zur Schule gegangen. Diese Amelia Gray war ein paar Klassen über ihr gewesen, sodass sie einander nicht gut gekannt hatten. Als Ree jetzt jedoch bewusst versuchte sich zu erinnern, erstand vor ihrem geistigen Auge das Bild eines stillen, hübschen blonden Mädchens. Und damit kamen andere Erinnerungen. An irgendeinen Friedhof ...
    Ja, genau. Amelias Vater war Verwalter gewesen, und die Familie hatte in einem weißen Haus in der Nähe des Friedhofs von Rosehill gewohnt.
    Als Ree noch ein kleines Mädchen war, hatte ihre Großmutter ihr die Liebe zu alten Friedhöfen vermittelt. Rosehill war einer ihrer Lieblingsplätze gewesen, und am Sonntag nach der Kirche nahmen sie und Ree sich manchmal das Mittagessen als Picknick mit dorthin und aßen es im Schatten der zweihundert Jahre alten Eichen, die das Gelände umsäumten. An diesen gemütlichen Sommernachmittagen, wenn die Sonne auf die Statuen und die Grabsteine schien und die Luft nach den Kletterrosen duftete, die sich über die Zäune und durch die Baumreihen rankten, war der Friedhof wie ein magischer Ort gewesen.
    An einem Nachmittag war Ree auf eigene Faust losgezogen, während ihre Großmutter im Schatten ein Nickerchen machte. Normalerweise war der alte Teil des Friedhofs für Besucher geschlossen, aber an dem Tag stand das Tor offen. Da sie schon immer unerschrocken und ziemlich neugierig gewesen war, hatte sie sich hineingeschlichen und war über die Steinwege gestreift, die sich durch einen urwüchsigen Wald aus üppigen Farnen und dicken graugrünen Vorhängen aus Louisiana-Moos schlängelten. In diesem gruftigen Märchenland, inmitten eines Publikums aus steinernen Engeln, war Ree über Amelia Gray gestolpert, die dort Hof hielt.
    Sie trug ein wallendes Gewand, das aussah, als wäre es aus einem alten Seidenkleid gefertigt worden. Wenn sie sich bewegte, flatterte der hauchdünne Stoff wie Feenflügel, und auf ihrem goldblonden Haar trug sie eine Krone aus Rosenknospen und Klee. Amelia musste damals so etwa zehn Jahre alt gewesen sein, und für die siebenjährige Ree war sie das geheimnisvollste Wesen, das ihr je begegnet war.
    Unwillkürlich gab Ree einen Laut von sich – ein leichtes überraschtes Keuchen –,
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