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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen
Autoren: Amanda Stevens
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aber Amelia war nicht erschrocken. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie sich langsam umdrehte und Ree ansah. Ihre Augen waren ganz klar, daran erinnerte Ree sich genau. Im ersten Moment hatte sie gedacht, sie seien blau, doch als das Mädchen auf sie zukam, stellte sie fest, dass sie grau waren. Oder waren sie grün?
    „Wie bist du hier hereingekommen?“, hatte Amelia mit hauchzarter Stimme gefragt.
    Ree stellte fest, dass sie ungewöhnlich sprachlos war, und zeigte mit dem Finger in Richtung Tor.
    Amelia biss sich auf die Unterlippe. „Ich muss vergessen haben, es zuzumachen. Ich sperre es lieber zu, bevor Papa dahinterkommt. Komm. Ich geh mit dir zurück.“
    Doch Ree rührte sich nicht von der Stelle und beäugte mit neugierigem Blick die vielen Steinengel. So viele hatte sie noch nie gesehen. Sie waren wie eine schweigende trauernde Armee.
    „Sie sind voller Magie“, sagte Amelia, und dabei nahmen ihre Augen einen verträumten, versonnenen Ausdruck an. „Manchmal, kurz vor Sonnenuntergang, wenn das Licht genau auf die richtigen Stellen fällt, werden sie lebendig.“
    Endlich überwand Ree ihre Sprachlosigkeit, aber zu ihrem Leidwesen kam ihre praktische Seite zum Vorschein.
    „Es gibt keine Magie.“
    „Aber natürlich gibt es die. Überall um uns herum ist Magie. Du kannst sie nur nicht sehen.“
    „Kannst du sie sehen?“
    „Manchmal.“ Amelias Lächeln verschwand, und sie wandte ihren Blick ab. „Aber hier bin ich in Sicherheit.“
    „Warum?“
    Sie machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Arm, die die zerfallenden Engel und den ganzen Friedhof um sie herum einschloss. „Weil sie meine Beschützer sind“, antwortete sie. „Und das hier ist mein Königreich ...“
    Die Erinnerung brach ab, als Ree um eine Ecke bog und um ein Haar mit Trudy McIntyre zusammengestoßen wäre. Die führte Alice Canton zurück in ihr Zimmer, eine junge Frau, die an Schüben von paranoider Schizophrenie litt. Alice war leichenblass und sehr labil, hatte einen ausgemergelten Körper und große, tragisch in die Welt blickende Augen.
    Sie blieb unvermittelt stehen und starrte Ree an, als sie in den Korridor kamen.
    „Komm bitte, Alice“, drängte Trudy. „Damit wir dich für die Nacht bettfertig machen können.“
    Doch Alice rührte sich nicht von der Stelle, nicht einmal, als Trudy versuchte, sie dazu zu zwingen. „Wer ist die Frau?“
    „Das ist Ree“, erwiderte Trudy. „Erinnerst du dich denn nicht mehr an sie? Sie hat dir doch letzte Woche ein neues Buch gebracht.“
    „Nicht die“, sagte Alice unbeirrt. „Die andere.“
    Und in dem Moment fiel Ree auf, dass Alice sie gar nicht direkt ansah, sondern dass sie auf einen Punkt genau neben ihrer Schulter starrte.
    Ein eisiger Schauer fuhr durch Ree hindurch, doch sie widerstand dem Drang, einen Blick hinter sich zu werfen.
    „Hier ist niemand sonst“, erklärte Trudy. „Nur wir drei Mädels.“
    Ree lächelte Alice beruhigend an und trat einen Schritt auf diese zu, damit Alice sie in dem gedämpften Licht besser sehen konnte. Alice zuckte zurück, schob die Schultern vor und hielt die geballten Fäuste vor das Gesicht, als wollte sie sich auf diese Weise schützen. Sich dahinter verstecken. „Schau sie nicht an“, wisperte sie.
    Trudy tätschelte ihr den Arm, und Alice spähte über ihre Fäuste hinweg. „Kannst du sie sehen?“ Ihre Stimme wurde lauter vor Erregung. „Warum kannst du sie nicht sehen? Warum kannst du keinen von ihnen sehen? Sie sind überall!“
    Überall um uns herum ist Magie. Du kannst sie nur nicht sehen.
    Wieder erschauerte Ree, doch sie versuchte, Alice zuliebe ein gutmütiges Gesicht zu machen.
    „Die da ist wütend“, warnte Alice sie. „Sie macht mir Angst.“
    „In deinem Zimmer bist du in Sicherheit“, beruhigte Trudy sie, nahm Alice fest am Arm und zog sie den Korridor hinunter.
    Widerstrebend ging Alice mit und flüsterte dabei unablässig vor sich hin: „Das arme Mädchen. Das arme, arme Mädchen ...“
    Und Ree hatte das unbehagliche Gefühl, dass Alice sie meinte.
    Brüsk wandte sie sich um und ging zur Anmeldung. Ein paar Krankenpfleger waren in der Eingangshalle, aber sie nickten Ree nur kurz zu und beachteten sie nicht weiter. Sie wusste nicht, wie lange Trudy mit Alice beschäftigt sein würde, aber sie war versucht, zu Trudys Schreibtisch zu schleichen und sich Zugang zum Computer zu verschaffen. Wenn sie Violets Krankenakte fand, kam sie vielleicht dahinter, warum Dr. Farrante sich so bedroht fühlte.
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