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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen
Autoren: Amanda Stevens
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Was für eine Macht konnte Ilsa Tisdale – die mit Sicherheit schon lange tot war – heute noch über die Lebenden haben?
    Klugerweise gab Ree ihrem Drang nicht nach. Die Erpressungsgeschichte ging sie überhaupt nichts an, und außerdem stand Gefängnis darauf, wenn man sich unbefugt in eine Krankenakte einhackte. Sie beschwichtigte sich damit, dass sie in Miss Violets Zimmer ging. Nicht um dort herumzuschnüffeln, sondern um ihr die letzte Ehre zu erweisen.
    Es war noch niemand gekommen, um die Leiche abzuholen, und als Ree an Miss Violets Bett stand, überkam sie ein ganz seltsames Gefühl. Die alte Frau sah zwar friedlich aus im Tod, doch Ree empfand nichts Friedliches bei ihrem Anblick. Sie war nicht zartbesaitet, wenn es um den Tod ging, und sie glaubte nicht an Geister. Doch als sie jetzt auf den Leichnam blickte, spürte sie die eisige Kälte einer unnatürlichen Macht im Raum.
    Das war doch verrückt. Ihre Fantasie spielte ihr nur einen Streich.
    Ree versuchte, das Gefühl abzuschütteln, und nahm das Buch vom Nachttisch, das immer noch an derselben Stelle lag, wo sie es kurz zuvor hingelegt hatte. Sie schlug es auf und strich mit dem Daumen über die Widmung. Und im selben Augenblick sträubten sich ihr die Nackenhaare.
    Sie würde sich nicht umdrehen. Nein, das würde sie nicht. Da war niemand. Sie war allein in diesem Raum, allein mit einer toten Frau, und die Toten konnten ihr nichts tun. Und sie konnten auch nicht wieder zurückkommen. Es gab keine Geister. Und keine Zauberei und keine Magie. Ein steinerner Engel konnte nicht zum Leben erwachen, und eine Leiche konnte das auch nicht.
    Ein eisiger Luftzug strich über ihren Nacken, und Ree konnte nichts dagegen tun und drehte sich halb um. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich in der hintersten Ecke des Zimmers etwas bewegte. Mit heftig pochendem Herzen betrachtete sie es, bis sie schließlich erkannte, dass es sich bei dem, was sie da erspäht hatte, nur um den Schatten eines Astes handelte, der sich draußen vor dem Fenster bewegte.
    Halb ohnmächtig vor Erleichterung hielt sich mit der Hand am Bett fest, um sich zu stützen. Was für eine seltsame Nacht.
    Ihre Nerven waren völlig überreizt. Das war die einzig logische Erklärung. Der Stress, der damit einherging, dass sie ihre Masterarbeit fertigstellen und nebenbei noch in der Klinik arbeiten musste, während ihre Schulden für das Studium von Tag zu Tag weiterstiegen, forderte seinen Tribut. Und jetzt Miss Violets Tod. Der Erpressungsversuch. Dr. Farrantes Geheimnis. Eine Frau namens Ilsa Tisdale, die offenbar die Macht hatte, noch aus dem Grab heraus Menschenleben zu zerstören. Das klang alles dermaßen melodramatisch und reißerisch, dass Ree überzeugt war, sie würde am nächsten Morgen über ihre Überreaktion lachen müssen.
    Doch jetzt lachte sie nicht. Als sie das Buch wieder auf den Nachttisch legte, strich ihr etwas Kaltes über die Hand. Sie schnappte nach Luft und wich erschrocken zurück.
    „Geh nach Hause, Ree.“ Sie befahl es sich laut, weil sie hoffte, der Klang ihrer eigenen Stimme würde die namenlose Furcht verjagen.
    Vergiss die Erpressung. Vergiss Miss Violet. Das geht dich alles nichts an. Geh einfach ... nach Hause.
    Und genau das hätte sie wahrscheinlich auch getan, wenn sie nicht genau in dem Moment die Außentür gehört hätte. Instinktiv huschte Ree auf Zehenspitzen ins Bad und versteckte sich dort gerade noch rechtzeitig, bevor Dr. Farrante das Schlafzimmer betrat. Und damit bespitzelte sie den überragenden Herrn Psychiater zum zweiten Mal in dieser Nacht.
    Er trat sofort an Miss Violets Bett und stand eine Weile einfach nur da und blickte auf sie hinunter. Obwohl der Raum nur schwach beleuchtet war, konnte Ree sein Gesicht deutlich sehen. Sie fand immer noch, dass er der attraktivste und charismatischste Mann war, dem sie je begegnet war, doch jetzt sah sie auch etwas Anomales in seinen allzu perfekten Zügen. Etwas Kaltblütiges in der Art, wie er die Arme hinter dem Rücken verschränkte und die sterblichen Überreste so ungerührt begutachtete.
    Und plötzlich erinnerte sie sich wieder an die spöttischen Bemerkungen des Erpressers. Die Farrantes haben sich ja immer so gut um meine Tante gekümmert .
    Als sie den Psychiater jetzt bei der Leiche beobachtete, kam sie immer mehr zu der Überzeugung, dass irgendeine Gräueltat begangen worden war, die man seit Generationen vertuschte. Irgendetwas Entsetzliches war Ilsa Tisdale zugestoßen. Das stand für Ree
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