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Die Verlassenen

Die Verlassenen

Titel: Die Verlassenen
Autoren: Amanda Stevens
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ihr mit einem Schlag klar, dass sie direkt in die Augen eines Erpressers starrte.
    Mit taxierendem und zugleich abweisendem Blick musterte er sie kurz von oben bis unten, dann rannte er quer durch den Raum und an ihr vorbei nach draußen. Ree hätte ihm nachgeschaut, doch dann wurde ihre Aufmerksamkeit auf Dr. Farrante gelenkt. Der stand im Türrahmen seines Büros, und seine edlen Züge waren verzerrt vor Wut.
    „Wer sind Sie?“, fuhr er sie an.
    „Ree ... Hutchins.“ Sie hoffte, dass er ihr nervöses Zögern nicht bemerkte. Sie atmete tief durch und versuchte, sich wieder zu fassen. „Eine der Krankenschwestern hat mich gebeten, das hier auf den Schreibtisch Ihrer Assistentin zu legen.“ Sie hielt die Mappe hoch.
    „Wie lange stehen Sie schon da?“
    „Ich bin gerade gekommen. Es tut mir leid, wenn ich Sie störe. Ich dachte, Sie seien schon nach Hause gegangen.“
    Sein Blick fiel auf ihren Krankenhauskittel. „Sie sind Angestellte in dieser Klinik, wie ich sehe.“ Sein Zorn wich einer Art kalter Berechnung, die Ree nur noch nervöser machte.
    „Ich mache ein Praktikum. Ich bin auch in einer Ihrer Vorlesungsreihen an der Emerson University.“
    „Dann habe ich Sie also da schon mal gesehen.“ Langsam trat er in den Raum, und Ree kämpfte gegen den unbändigen Drang an, zurückzuweichen. Warum war ihr bisher noch nie aufgefallen, dass er sich so geschmeidig bewegte wie eine Schlange?
    „Ihre Vorlesung letzte Woche zum Thema menschlicher Emotion und Kognition war ... die war großartig“, stammelte sie.
    „Dann nehme ich an, dass Sie nicht diejenige waren, die in der letzten Reihe vor sich hin geschnarcht hat?“
    Schwang da Belustigung in seiner Stimme mit? Vor noch nicht allzu langer Zeit hätte Ree seine übertriebene Bescheidenheit entzückend gefunden, aber jetzt musste sie ein Schaudern unterdrücken.
    Wieder atmete sie durch, dann lächelte sie. „So etwas würde mir nie passieren. Ich freue mich jedes Mal auf Ihre Vorlesungen.“
    „Seit wann machen Sie hier Ihr Praktikum?“, fragte er. „Und wie kommt es, dass ich Sie bis jetzt noch nie hier gesehen habe?“
    „Ich bin erst seit zwei Monaten hier, und ich habe meistens im Südflügel zu tun.“
    Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber Ree hatte den Eindruck, als würde er aufmerken. Doch zu welcher Einschätzung er kam, blieb verborgen. „Dann müssen Sie eine meiner Lieblingspatientinnen kennen. Violet Tisdale.“
    Also hatte sie es sich doch nicht eingebildet, schloss Ree. Dass er von den vielen Patienten des Südflügels ausgerechnet Miss Violet erwähnte, konnte kein Zufall sein. Und das bedeutete, dass er den Verdacht hatte, sie könnte zumindest einen Teil des verfänglichen Streitgesprächs mitangehört haben. Und jetzt stellte er sie auf die Probe, beobachtete, wie sie auf den Namen reagierte.
    Sie zwang sich, ihrer Stimme einen wehmütigen Klang zu geben. „Miss Violet war auch eine meiner Lieblingspatientinnen.“
    Er zog eine seiner elegant geschwungenen Brauen hoch. „War?“
    Jetzt war es an Ree, seine Reaktion zu beobachten. „Ach ... wissen Sie das noch nicht? Miss Violet ist heute Abend gestorben.“
    Nur das kurze Aufflackern einer Gefühlsregung huschte über sein ebenmäßiges Gesicht. „Nein, das wusste ich noch nicht.“
    „Vielleicht hätte ich es Ihnen auch gar nicht sagen sollen. Es steht mir nicht zu ...“
    „War sie allein?“
    Bis zu diesem Abend hätte sie einer solchen Frage keine besondere Beachtung geschenkt, aber jetzt schienen diese Worte eine unterschwellige Bedeutung zu haben.
    „Nein. Ich war bei ihr, als sie starb.“
    „Hat sie noch irgendetwas gesagt?“
    Noch eine Frage mit einer unterschwelligen Bedeutung. „Sie ist friedlich entschlafen.“
    „Das war’s dann also“, murmelte er, und Ree hätte schwören können, dass sie ehrliches Bedauern in seiner Stimme hörte.
    Doch was sie in seinen Augen sah, ließ sie erschauern.
    Ein eigentümliches Unbehagen begleitete Ree über die Treppe nach unten und durch das Labyrinth der hellgrün gestrichenen Flure. Auf den Stationen, auf denen die Sicherheitsbestimmungen strenger waren, hatte man die Patienten bereits für die Nacht in ihre Zimmer eingeschlossen, und eine unheimliche Stille lag über den Fluren.
    Mit schnellen Schritten lief Ree zurück in den Südflügel, und sie sagte sich noch einmal, dass nichts von dem, was sie mitangehört hatte, sie irgendetwas anging oder sie betraf. Sie war also gut beraten, wenn sie keinen weiteren
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