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Die Verfluchten

Die Verfluchten

Titel: Die Verfluchten
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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vermutlich seit Anbeginn der Zeit gewesen
war, aber der Mond war zu einer Sichel von der Breite einer Messerklinge zusammengeschrumpft und spendete kaum noch Licht.
    Hinzu kam, dass sich der Weg hierher nicht als so anstrengend erwiesen hatte, wie Andrej befürchtet hatte, sondern als ungleich viel
anstrengender. Sein Verstand mochte ihm noch so oft klar zu machen
versuchen, dass die Temperaturen im gleichen Maße gefallen waren,
wie sich die Sonne dem Horizont genähert hatte, sein Gefühl hatte
ihm gesagt, dass es heißer geworden war, ununterbrochen und unerbittlich. Selbst sein unvorstellbar leistungsfähiger Körper war längst
an seine Grenzen gestoßen, als die für diesen Teil der Welt typische,
kurze Dämmerung hereingebrochen war. Andrej hätte mittlerweile
seine rechte Hand für einen Schluck Wasser gegeben. Wie die Männer, deren Spuren sie hierher gefolgt waren, den Weg geschafft hatten, war ihm ein Rätsel. Sie mochten hundertmal in dieser Wüste
geboren worden und aufgewachsen sein, letztendlich aber waren sie
sterbliche Menschen, die ihr kurzes Leben in furchtbar zerbrechlichen Körpern verbrachten.
    Nicht alle hatten es geschafft. Während sie der Spur der flüchtenden Räuber gefolgt waren, hatten sie insgesamt drei Tote gefunden.
Zwei waren offensichtlich an den Verletzungen gestorben, die sie
sich im Kampf gegen ihn und Abu Dun zugezogen hatten, der Dritte
wies, abgesehen von ein paar Schrammen, keinerlei äußerliche Verletzungen auf und musste ein Opfer von Hitze und Durst geworden
sein.
    »Was meinst du?«, flüsterte Abu Dun neben ihm. Andrej riss seinen
Blick mit einiger Mühe von dem sonderbaren Gebilde dort unten los
und sah den Nubier nachdenklich an. Abu Dun hatte seinen schweren
Mantel so eng um sich geschlungen, wie es ging, und sich das lose
Ende seines Turbans, das er normalerweise wie einen Schal um den
Hals schlang, schräg um die Ohren gewickelt. Es sah albern aus, aber
Andrej verstand nur zu gut, warum er das getan hatte. Nachdem die
kurze Dämmerung vorüber gewesen war, war es kühl geworden,
dann bitterkalt. Wenn es wirklich einen Gott gab, dachte Andrej, der
für all das hier verantwortlich war, dann musste er diesen Landstrich
wohl in besonders übler Laune erschaffen haben. Oder für zwei
grundverschiedene Arten von Bewohnern. Tagsüber wurde es so
heiß, dass einem fast das Blut in den Adern kochte, und kaum war
die Sonne vom Himmel verschwunden, tat man gut daran, ständig in
Bewegung zu bleiben, damit es nicht zu Eis erstarrte.
    »Was wolltest du gerade wissen?«, gab er zurück.
Abu Dun schenkte ihm einen verärgerten Blick. Sein Herumalbern
hatte im Laufe des Tages aufgehört, und so, wie es seit einiger Zeit
Abu Duns Art war, war seine Laune danach ins genaue Gegenteil
umgeschlagen. »Gehen wir hinein?«, knurrte er.
    Die Frage war nicht nötig gewesen; ebenso wenig wie die, die Andrej zuvor gestellt hatte. Schließlich waren sie aus keinem anderen
Grund hier. Und sie hatten auch gar keine andere Wahl. Andrej
wusste so gut wie Abu Dun, dass sie den Rückweg nicht mehr schaffen würden. Er musste sich eingestehen, dass er nicht wusste, ob sie
verdursten oder an einem Hitzschlag sterben konnten, oder ob die
geheimnisvolle Kraft, die sie nunmehr seit so unendlich vielen Jahren am Leben erhielt und sie langsamer altern ließ als eine mächtige
Eiche, sie auch davor schützen würde. Aber es fühlte sich auf jeden
Fall so an, als wären sie auf Dauer der unbarmherzigen Hitze nicht
gewachsen, und er war nicht besonders begierig darauf herauszufinden, ob das stimmte. Immerhin brauchten sie Essen und Wasser wie
ganz normale Menschen, und dann und wann auch ein wenig Schlaf.
    Trotzdem zögerte er erneut mit einer Antwort. Stattdessen wandte
er seine Aufmerksamkeit wieder dem Dünental unter ihnen zu. Dieses Was-auch-immer dort unten gefiel ihm nicht. Statt Abu Duns
Frage direkt zu beantworten, fragte er selbst: »Was ist das?«
    »Ich nehme an, eine alte Festung meines Volkes«, antwortete der
Nubier.
Andrej warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Er hatte die Karte dieses Landes nicht annähernd so gut im Kopf wie Abu Dun, wusste
aber dennoch, dass sie noch etliche Tagesreisen (zu Pferde!) von den
Grenzen seiner Heimat entfernt waren.
Abu Dun starrte anscheinend ebenso konzentriert ins Tal hinab wie
Andrej, registrierte seinen Blick aber trotzdem. »Mein Volk hat einst
über all das hier geherrscht«, sagte er. »Und über noch viel mehr.
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