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Die verbotene Pforte

Die verbotene Pforte

Titel: Die verbotene Pforte
Autoren: Nina Blazon
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nur zwei Fensterreihen übereinander, sondern … Tobbs zählte … vier, oder fünf oder … mehr? Genau konnte er es nicht erkennen. Fensterscheiben gab es nicht, nur bunte Tücher, mit denen alle Öffnungen verhängt waren. Das, was er für Fensterglas gehalten hatte, waren Spiegel. Sie steckten alle an langen Stangen auf den Hausdächern – und bewegten sich! Schnüre strafften sich und dirigierten die Spiegel in bestimmte Richtungen, sie wanden sich wie Schneckenaugen, kippten hin und her. Manche schlugen gegeneinander, als würden sie einander in ihrer Hast, ein Bild einzufangen, im Weg stehen. Aber so unterschiedlich sie sich auch verhielten, alle kannten offenbar nur ein Ziel – sich Kalis Kutsche zuzuwenden.
    Als der Mancor langsamer wurde und in einem eleganten Bogen direkt über der Stadtmauer aus schwarzem Stein entlanggaloppierte, erblickte Tobbs ein hundertfaches Bild – den gewaltigen Streitwagen, der von einem Dämon geführt wurde. Im Spiegel hatte Sid grüne Schlangenhaut und sah gar nicht mehr engelhaft lieblich aus. Spitze Zähne verwandelten sein Grinsen in ein bedrohliches Fletschen, auch das blonde Haar war verschwunden. Zeigte der Spiegel die Zukunft? Tobbs schluckte und schielte zu der Stelle, an der er selbst im Streitwagen stand. Und sah … nichts! Nur ein wolkiges Etwas schwebte dort. Vorsichtig lehnte er sich weiter aus dem Wagen und spähte in die vorbeihuschenden Spiegel. Nein, kein Zweifel – er besaß kein Spiegelbild! Und da war noch etwas Seltsames – wehendes Haar und wilde blaue Augen.
    Aber bevor Tobbs begriff, was er in den huschenden Spiegelbildern sah, zog der Wagen schon direkt über der Stadt dahin. Unendlich weit unten erstreckte sich ein Gewirr aus sonnenlosen Gassen und Häuserschluchten, helle Straßen breiteten sich wie ein Adernetz am Boden aus. Es duftete nach Gewürzen und Blumen.
    Der Mancor brüllte wütend gegen die Spiegel an. Glas klirrte und zerbrach. Tobbs schoss die Angst in die Kehle – ein würgender, heißer Druck, der ihm die Luft abschnürte. Scherben regneten auf die Stadt herab. Nur wenige Spiegel waren noch unversehrt, aber sie zeigten nun nicht mehr Kalis Streitwagen, sondern kippten nach unten, als würden sie in die Gassen der Stadt hinunterschauen.
    »Weg hier!«, krächzte Tobbs. Das ließ sich Sid nicht zweimal sagen. Mit aller Kraft legte er sich in die Zügel. Der Mancor machte einen unwilligen Sprung in der Luft, der den Wagen hüpfen ließ, doch zu Tobbs’ Erleichterung gehorchte er und drehte ab. In diesem Moment zischte etwas Langes an Tobbs’ Ohr vorbei. Instinktiv duckte er sich in den Schutz des Wagens und sah sich um. Ihm wurde schwindlig.
    »Sid!«, brachte er heraus. »Sie … greifen uns an!«
    Auf der Stadtmauer, die eben noch leer gewesen war, standen Krieger. Sie trugen glänzende Rüstungen und hielten Waffen in den Händen. Sid stieß einen wüsten, kehligen Fluch aus, den vermutlich nur Dämonen verstanden, und trieb den Mancor an. Kalis Kutschtier schüttelte wieder unwillig die Mähne. Sein Brüllen vermischte sich mit einem anderen Geräusch – ein Sausen wie von starkem Wind. Dann pfiffen schon Dutzende von Speeren und Steinkugeln durch die Luft, direkt auf den Wagen zu. Ein gewaltiger Schlag schleuderte das Gefährt aus seiner Spur. Triumphgeschrei hallte von den Dächern wider.
    »Halt dich fest!«, kreischte Sid. »Wir weichen nach oben aus!«
    Abrupt stieg der Wagen in die Höhe und Tobbs klammerte sich mit aller Kraft an den Holzbügel. Plötzlich baumelten seine Füße in der Luft. Sid schaukelte neben ihm, die Zügel um die Handgelenke gewunden. Wieder hörte Tobbs ein heranzischendes Pfeifen. Spürte einen mörderischen Ruck in den Fingern.
    Der Holzbügel, an den er sich klammerte, brach.
    Und Tobbs fiel.
    Seine Jacke flatterte ihm um die Ohren und der Wind ließ seine Hosenbeine knattern. Im Fallen drehte er sich um seine eigene Achse, sodass er mal den Himmel und mal ein Häusermeer sah. Die Häuser! Er fiel mitten in die Stadt! Sein Magen schien Purzelbäume zu schlagen und presste hart gegen seine Kehle, aber Tobbs konnte nur noch einem Gedanken folgen: Nie würden seine Eltern ihn finden. Jetzt nicht mehr. Ein Pfeil streifte ihn, und dann witschte eine Kugel direkt vor seiner Nase vorbei. Er würde also sterben. Zerschmettert durch eine Kugel, durchbohrt von einem Pfeil – oder zu Tode gestürzt in einer fremden Gasse. Würde es wehtun?
    Es tat weh. Viel zu weh, um zu schreien. Alle
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