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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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Rauchkringeln, die Mr. Dickens in die Luft bläst. »Die Stadt der Schornsteine hat man sie damals genannt. Es gab Schornsteinfegerjungen und Armut, und
David Copperfield
war nicht einmal geschrieben worden.«
    »Werden Sie mir eines Tages davon erzählen?«
    »Ja. Das werde ich.«
    Von allem werde ich ihr berichten, und irgendwie beschleicht mich das Gefühl, als könnte es Emily Laing sein, die all diese Dinge zu Papier bringen wird. Ein absurder Gedanke vielleicht.
    Doch wie oft gibt es schon Zufälle?
    Später am Abend schaut sie aus dem Fenster. Ihr neues Zimmer im Anwesen in Marylebone ist unaufgeräumt. Überall stehen alte Möbelstücke herum, dazwischen Koffer und Plastiktüten, die voll gestopft sind mit den wenigen Habseligkeiten, die das Mädchen besitzt.
    Aurora ist bei ihr.
    »Das da draußen ist unsere Welt«, sagt sie.
    Noch immer schneit es.
    London liegt friedlich da. Eine Metropole, die für wenige Augenblicke in ihrem langen Leben zur Ruhe gekommen ist. Lichter funkeln, und drüben erhebt sich die Kuppel von St. Paul’s.
    Die Laterne hoch oben in der Kuppel leuchtet nicht mehr.
    Denn Lycidas ist fort.
    Lilith ebenso.
    Lord Uriel hat genau diese Worte benutzt. Er ist von uns gegangen, hatte er gesagt. Und nicht: Er ist tot.
    »Sie haben sich geliebt.«
    Emily erinnert sich an Liliths Lied.
    Aurora blickt hinunter zur Straße, wo die Passanten durch den hohen Schnee waten. »Lilith hat böse Dinge getan«, sagt sie. Erinnert sich an die Frau, die die Kinder Madame Snowhitepink genannt hatten. »Lycidas stand ihr da in nichts nach.« Grüblerisch verweilt sie einen Augenblick. »Sagt man nicht, dass man erwachsen ist, wenn man dies verstanden hat?«
    »Dass alle Katzen grau sind?«
    »Ja, dass es weder Gut noch Böse gibt. Nur etwas, das dazwischen liegt.«
    Emily seufzt. »Vielleicht.«
    Lässt die Silhouette der Stadt auf sich wirken.
    London.
    Ihre Heimat.
    Die Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss.
    »Haben die Guten gewonnen?«, fragt Aurora.
    Nach wie vor heult der Schneesturm durch die Nacht. Drüben in der Royal Albert Hall lebt der Lordkanzler von Kensington, und darunter befindet sich das Totenreich. In King’s Moan würde schon bald wieder das normale Leben einkehren. Mièville war nach dem Gespräch im Raritätenladen nach Hidden Holborn zurückgekehrt. Und der Scharlachrote Ritter bewacht Knightsbridge, wie er es schon immer getan hat. Manderley Manor erhebt sich im Regent’s Park und Mushroom Manor drüben in Blackheath. Die Black Friars, die noch immer ein Geheimnis umgibt, leben in einer Abtei tief unterhalb des Bahnhofs, der den gleichen Namen trägt.
    London, das weiß Emily, hat sich für immer verändert.
    Niemals wieder würde sie so arglos durch die Straßen wandern, wie sie es einst getan hatte, als sie noch nicht wusste, wie gierig die Welt ist und wie schnell sie kleine Kinder verschlingen kann.
    »Sag’s mir, Emmy. Haben die Guten gewonnen?«
    Emily ergreift die Hand ihrer Freundin.
    Sieht Aurora lange an.
    »Ich weiß nicht.«
    So stehen die Mädchen eine Weile da.
    In dem provisorischen Zimmer, das Emily Laings Zuhause werden wird.
    »Ist der Nyx wirklich tot?«
    Emily erinnert sich dessen, was Lycidas ihr sagte. »Alles«, hatte er behauptet, »wird irgendwann wieder leben.« Kann eine Metropole wie London überhaupt existieren ohne einen Nyx, der all die Niedertracht und Missgunst in sich aufsaugt, die in den Boden sickern?
    »Ich weiß es nicht.«
    Mièville glaubt, dass Lycidas die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen dorthin zurückgeschickt hat, von wo aus er sie einst entführte. In all die nahen und fernen Länder aus nahen und fernen Zeiten. Sie würden dort ihre Leben leben können. Von vorne beginnen und sich an nichts erinnern, was ihnen in den Tiefen der Hölle widerfahren war. Wäre das kein gutes Ende?
    Emily erzählt Aurora davon.
    »Ein schöner Gedanke.«
    Wieder Stille.
    »Woran denkst du?«
    Ohne zu zögern sagt Aurora: »An die Zeit, als man mich Schokoladenmädchen genannt hat und ich glaubte, mein Vater sei ein irischer Briefträger, der die ganze Welt nach mir absucht.« Sie lacht, aber nicht glücklich. »Kaum zu glauben, wie lange das her ist.«
    »Ja. All die Geschichten im Schlafsaal.«
    Beide Mädchen lauschen dem Wind, der draußen durch die Nacht heult.
    »Neil wird an Bord des Schiffes gehen«, sagt Aurora.
    »Die
Pequod

    Sie nickt.
    »Er hat versprochen, nach London zurückzukehren.« Verträumt sehen die dunklen Augen in die
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