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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Autoren: Christoph Marzi
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gefragt, was es mit der Zeit auf sich hat. »Wissen Sie, wie alt Sie sind?«, frage ich sie, und Mièville beobachtet uns neugierig.
    »Fragen Sie nicht«, gibt sie ausweichend zur Antwort.
    Ihr gesundes Auge blickt unruhig von einem zum anderen.
    »Wie alt bin ich?«, stellt sie schließlich die Gegenfrage.
    »Es ist so eine Sache mit der Zeit.« Mr. Dickens nimmt einen kräftigen Zug aus seiner Pfeife.
    »In der uralten Metropole vergeht die Zeit langsamer als hier oben. Sehr viel langsamer. Ein Tag im Labyrinth der uralten Metropole kann Tage im London darüber kosten.«
    »Die Whitechapel-Aufstände haben 1889 stattgefunden«, stellt Emily fest.
    »Sie sagen es.«
    »Wann bin ich geboren?«
    »Laut dem, was Mylady Manderley uns gesagt hat?«
    »Nun sagen Sie es mir schon.«
    »Sie wurden am 2. Juli des Jahres 1895 geboren. In den Mauern von Manderley Manor. Ihre Schwester Mara erblickte am 25. August im zweiten Jahr des neuen Jahrhunderts das Licht Londons.«
    »Das ist nicht möglich.«
    »Ist es doch.« Mr. Dickens musste lächeln. »Es ging uns allen so, als wir zum ersten Mal von dieser Besonderheit der uralten Metropole erfahren haben.« Er pafft einen Rauchkringel in die Luft. »Heißt ja nicht umsonst die uralte Metropole.«
    Geduldig erkläre ich es Emily, die ganz bleich um die Nase herum geworden ist.
    »Bevor Sie nach Rotherhithe kamen«, erkläre ich, »lebten Sie in Hollow Holborn. Dort gibt es ein Waisenhaus, dessen Keller bis tief in die Eingeweide der uralten Metropole reichen. Ihre ersten Lebensjahre haben Sie dort unten verbracht, und während Sie älter wurden wie jedes andere Kind auch, vergingen in London die Jahre. Nahezu ein Jahrhundert, um genau zu sein. Vier Jahre verbrachten Sie als Kind in der uralten Metropole, dann gab man Sie nach Rotherhithe. Gerade einmal zehn Jahre muss das her sein. Was Sie glauben, stimmt also. Sie sind dreizehn Jahre alt. Gemessen an Ihrer inneren Zeit.«
    Emily wirkt verwirrt.
    »Und Mara?«
    »Ihre Mutter wusste um die Pläne Lord Mushrooms. Sie wusste, dass er sein Kind dem Nyx würde opfern wollen. So beauftragte sie Miss Anderson, das Kind zu entführen. Niemand sollte davon erfahren. Nicht einmal die beste Freundin ihrer Mutter.«
    »Lucia del Fuego.«
    Emily reibt sich müde die Augen.
    »Miss Anderson brachte Mara in ihr Elternhaus, das in den Katakomben von Spitalfields liegt. Dort verbrachte Mara die ersten Lebensjahre. Bis Miss Anderson die Kleine fortgeben musste, weil sie befürchtete, der Verdacht könne auf sie fallen. Die Ratten, hatte sie gehört, suchten überall nach dem Kind.«
    »Sie übergab Mara dem Waisenhaus, in dem auch ich lebte?«
    »Ja, dem Waisenhaus in Holborn. Wo Ihre Schwester die ersten Lebensjahre verbrachte, bis Holborn schließen musste und sie nach Rotherhithe ins Waisenhaus Reverend Dombeys überstellt wurde.«
    Emily zieht ein Gesicht.
    »Wie alt bin ich denn nun? Und sagen Sie jetzt nicht, ich sei über hundert Jahre alt.«
    Mr. Dickens ist es, der es ihr erklärt. »Die innere Zeit ist die Zeit, die zählt. Es ist, als liefe in Ihrem Körper eine Uhr, und es ist diese Uhr, die Ihr Alter verrät. Wenn Sie zwischen der uralten Metropole und London wandeln, dann dürfen Sie nur mehr auf das Ticken dieser inneren Uhr hören. Die Zeit, die um Sie herum verstreicht, ist wie das Wasser, das die Themse hinabfließt. Die Geschwindigkeit ist unterschiedlich. Sie selbst, Emily, sind der Fixpunkt.«
    »Und deshalb müssen Sie auch weiterhin Miss Monflathers’ Schule besuchen. Die Kinder dort leben alle ein Leben zwischen London und der uralten Metropole. Alle haben sie das gleiche Zeitproblem, wenn man es so nennen will.«
    Sie erinnert sich an Manderley Manor. Daran, dass man keine Telefonate in die uralte Metropole führen kann. Sagt: »Mit der Zeit ist es wirklich so eine Sache.« Ungeheuer kompliziert sogar.
    »Je länger man sich in der uralten Metropole aufhält, desto mehr verändert sich der Verlauf der Zeit hier oben. Oder desto langsamer vergeht sie dort unten. Es ist wie gesagt eine knifflige Sache mit der Zeit.«
    Emily sieht mich an.
    Legt den Kopf schief.
    »Es klingt wirklich sehr kompliziert.«
    »Das ist es.«
    Emily fährt sich mit der Hand durchs Haar.
    Nippt an ihrem Tee.
    »Wie alt sind Sie, Wittgenstein?«
    Ich grinse sie an. »Nicht so alt, wie ich aussehe.« Was so viel heißt wie: Fragen Sie nicht!
    Emily muss lachen.
    »Ich war in Ihrem Alter, als ich nach London kam.« Mein Blick verfängt sich in den
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