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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Autoren: Goliarda Sapienza
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nicht das erste Mal, daß sie abhebt und in ferne Gefilde entfleucht!«
    Bambú: »Ich verlange trotzdem, daß sie untersucht wird.«
    Modesta: »Aber ja, Carlo, wollen wir Bambú den Gefallen tun, um sie zu beruhigen. Wie schön du bist, Nina, was ist geschehen?«
    Nina: »Das ist nur das weiße Kleid, meine Mody, weiß macht jung. Immer wenn ich dieses Kleid anziehe, findet sie mich schön. Laß uns gehen, Bambú, unsere Mody wird nie etwas von Mode verstehen. Niemand ist bekanntermaßen perfekt … O Carlo, ich habe noch einmal den Film ›Manche mögen’s heiß‹ gesehen, je öfter ich ihn sehe, desto besser gefällt er mir.«
    Nina hat recht, mein Kleid, das über dem Sessel hängt, hat eine grauenhafte Farbe. Im künstlichen Licht mag es noch irgendwie angehen, aber nun, in der Sonne, hat es die faulige Farbe eines Giftpilzes. Ich schäme mich und wage kaum, meinen Blick von diesem violetten Pilz abzuwenden. Und wer weiß, welchen Unterrock ich trage! Ich schäme mich vor diesem großen Fremden, der schweigend am Fußende meines Bettes steht. Ich ziehe mir die Decke bis ans Kinn und versuche mit den Händen die Farbe meines Unterrocks zu ertasten. Die einzige Hoffnung ist, daß Bambú mir wie damals, als ich festgenommen wurde, etwas von ihren Sachen angezogen hat. Es muß so sein, denn der Stoff ist leicht wie Seide. Es muß eines dieser exotischen Baumwollhemden sein, die man jetzt trägt.
    »Wollen wir mit der Untersuchung beginnen?«
    Dem Aussehen nach hatte ich geglaubt, der Musiker hätte eine gepreßte Stimme wie viele Engländer. Scheußlich, wenn sie mit ihrem that, that, and, and anfangen … Doch er scheint eine Ausnahme zu sein, denn nachdem er mir wie einem Kaninchen den ganzen Leib abgetastet hat, sagt er mit tiefer, ausdrucksvoller Stimme:
    »Meiner Meinung nach sind Sie kerngesund, doch ichempfehle Ihnen, weitere Untersuchungen machen zu lassen. Das klinische Auge gibt es heute nicht mehr … Sagen Sie mir: Litt ein Elternteil von Ihnen an Diabetes?«
    »Dann sind Sie gar kein Musiker?«
    »Musiker? Wieso das? Die Musik ist mir ein einziges Rätsel, sie scheint mir Lärm und nichts als Lärm zu sein. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
    Aus der Ferne wirkte das Gesicht dieses Musikers zu glatt und vollkommen, aber aus der Nähe hat er Myriaden kleiner Fältchen, die seine Züge beleben und den Blick verzaubern.
    »Ihr habt äußerst elegante Falten, Marco, solche Falten habe ich noch nie gesehen.«
    »Das war auch harte Arbeit, Modesta. Achtundfünfzig Jahre unermüdlicher Arbeit! Aber Sie haben mir noch nicht geantwortet.«
    »Meine Eltern?«
    »Genau.«
    »Wer weiß das schon! Mit meiner Mutter habe ich vielleicht vier Worte gewechselt, und sie war ein Wesen, das kaum wußte, ob sie lebte oder tot war. Meine Schwester war mongoloid. Hat das vielleicht etwas mit Diabetes zu tun? Warum lachen Sie? Hat es, oder hat es nicht?«
    »Nein, überhaupt nicht. Und Ihr Vater?«
    »Ich habe mal jemanden getroffen, der behauptete, mein Vater zu sein, aber ich hatte keine Zeit, ihn zu fragen, ob er Diabetes hat oder nicht.«
    »Seid ihr fertig? Wenn ihr so lacht, ist die Visite wohl zu Ende, und ich kann hereinkommen. Großmutter, bitte, ich muß los, laut Protokoll kann ein Enkel nicht abreisen ohne den Segen seiner Großmutter.«
    Warum schreien sie so? Sie war versucht gewesen, aufCarmelo zu bleiben, doch nun sah sie, daß es verrückt wäre: Sie sehnte sich nach der Stille ihres Zimmers, ihren einfachen Dinge und ihren Papieren. Das Hemd war zwar hübsch, aber es kniff unter den Armen. Und auch Carluzzu, warum war er so aufgekratzt? Ihre Fröhlichkeit erinnerte an Zugvögel, die in stürmischen Nächten gegen Leuchttürme fliegen … Nein, das war ein Gedicht, ein Gedicht, das sie vor vielen Jahren gelernt hatte. Die Entdeckung der Poesie! Das war es, was sie tun mußte: in ihr Zimmer zurückkehren und wieder zu lesen anfangen. Neue Stimmen riefen von den Buchrücken nach ihr: Kerouac, Burroughs und dieser andere … Sie war immer froh gewesen, daß sie Fremdsprachen gelernt hatte, und auch jetzt, wo die Welt zu einem kleinen Fleckchen zusammenzurücken schien, kamen die Übersetzungen doch immer noch zu spät heraus … Auch ich bin zu spät, ich möchte aufstehen, aber Carluzzu umarmt mich, seine Stirnader pulsiert an meinem Hals. Immer wenn Carluzzu traurig ist, verbirgt er seine Traurigkeit hinter seinen Clownerien, die die anderen so zum Lachen bringen. Mir ist er lieber, wenn er
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