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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Autoren: Goliarda Sapienza
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wohl immer noch da ist?
2
    Vom Licht brennen mir die Augen. Immer, wenn ich rausgehe, brennen mir die Augen vom Licht; gehe ich hinein, macht mich die Dunkelheit blind. Die Hitze hat nachgelassen, und die Berge sind wieder schwarz wie Mamas Haare. Immer wenn die Hitze nachläßt, werdendie Berge so schwarz wie ihre Haare. Wird es dagegen heißer, werden die Berge blau wie das Sonntagskleid, das die Mama gerade für Tina näht. Immer bekommt sie Kleider und Schleifen! Sogar weiße Schuhe hat sie ihr gekauft. Ich kriege nichts: »Du hast deine Gesundheit, mein Kind, für dich reichen meine gekürzten Kleider. Wozu braucht man Kleider, wenn man gesund ist? Dank deinem Herrgott, statt dich zu beklagen, dank deinem Herrgott!« Sie spricht immer von diesem Herrgott, aber wenn man eine Erklärung will, kriegt man keine Antwort: »Bete, daß er dich beschützt, und damit ist’s gut! Was willst du noch wissen? Bete zu ihm und Schluß.«
    Es ist jetzt wirklich nicht mehr so heiß, und die Luft ist frisch. Innerhalb weniger Stunden ist der Schlamm getrocknet, der Wind hat sich gelegt, und das Schilfrohr schreit nicht mehr so wie gestern. Ich muß genau hinschauen: Dort, wo sich das Rohr bewegt, ist Tuzzu.
    »Was stehst du so dumm rum? Schaust du den Fliegen zu?«
    »Ich hab dich gesucht, und dumm bin ich auch nicht. Ich hab dich gesucht, bist du fertig?«
    »Nein, noch nicht. Ich ruh mich nur aus und genehmige mir eine Zigarette. Bist du auch noch blind und nicht nur so dumm wie deine Schwester? Siehst du nicht, daß ich mit einer Zigarette im Mund im Schatten liege?«
    »Rauchst du jetzt? Ich habe dich noch nie rauchen sehen.«
    »Natürlich rauche ich. Seit zwei Tagen. Es wurde doch Zeit, oder?«
    Dann schwieg er und nahm die Zigarette aus dem Mund. Jetzt würde er gar nichts mehr sagen. Das war immer so mit Tuzzu, wenn er erst einmal den Mund zugemacht hatte, machte er ihn stundenlang nicht mehr auf,wie sein Vater sagte. Und wenn das schon vorher so gewesen war, dann erst recht jetzt, wo er rauchte. Und wie groß er so ausgestreckt aussah! Ob er gewachsen war, oder ob es an der Zigarette lag, daß er größer wirkte? Wie soll ich jetzt mit ihm reden, wo er so groß geworden ist? Er wird mich auslachen und sagen, daß ich ein dummes Kind bin, wie immer. Ich konnte mich nur neben ihn setzen und ganz stillhalten, um ihn wenigstens anschauen zu dürfen. Und ich habe ihn lange angesehen, und so sehe ich ihn jetzt wieder: Sein von der Sonne verbranntes Gesicht schien wie von zwei großen hellen Wunden zerschnitten – das waren keine Augen –, aus deren Tiefe frisches blaues Wasser quoll. Ich beobachtete die sichere Bewegung, mit der er die Zigarette immer wieder zum Mund führte, genau wie sein Vater.
    Diese Selbstsicherheit ließ mich zittern.
    Nein, jetzt würde er nicht mehr mit mir reden, und vielleicht würde er mir nicht einmal mehr erlauben, ihn anzuschauen. Bei dem Gedanken wurde mir so kalt, daß ich die Augen schließen und mich hinlegen mußte, auch weil sich mir der Kopf drehte wie damals, als ich Fieber hatte … Mit geschlossenen Augen erwartete ich meine Verurteilung. Er würde mir nicht einmal mehr erlauben, ihn anzuschauen.
    »Was ist, Dummerchen, bist wohl eingeschlafen?«
    »Nein, ich schlafe nicht. Ich habe bloß nachgedacht.«
    »Ach was, du hast nachgedacht? Ein Dummerchen, das nachdenkt, na so was. Und worüber? Darf man das vielleicht erfahren?«
    »Ich hab überlegt, ob ich dich fragen soll …«
    »Was denn? Sag schon. Du siehst aus wie ein Huhn, dem man gleich den Hals umdreht. Was wird wohl sein, sag schon!«
    »Ach, nichts. Ich wollte dich fragen, was das Meer ist.«
    »Jetzt reicht’s mir aber mit dem Meer. Du bist vielleicht ein Dickkopf! Hundertmal hab ich es dir erklärt, hundertmal! Das Meer ist ein riesiges Wasser, so tief wie der Brunnen zwischen unserem Hof und der Hütte, in der ihr wohnt. Nur, daß es blau ist und du nicht sehen kannst, wo es aufhört, auch wenn du dich noch so sehr anstrengst. Willst du das endlich begreifen? Du bist eben dämlich, und selbst wenn du nicht dämlich wärst, haben Frauen, seit die Welt sich dreht, noch nie was verstanden, wie mein Vater sagt.«
    »Aber ich verstehe doch alles: ein Wasser, so tief wie das im Brunnen, nur blau.«
    »Sehr gut, gratuliere. Los, steh auf und schau dich um! Siehst du die Ebene? Wie heißt diese Ebene, los! Mal sehen, ob es sich lohnt, dir was beizubringen.«
    »Diese Ebene heißt Chiana del Bove.«
    »Genau, und das Meer ist
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