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Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Die Unvorhersehbarkeit der Liebe

Titel: Die Unvorhersehbarkeit der Liebe
Autoren: Goliarda Sapienza
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vergessen … Merkt Ihr? Kaum hat sie Euch gesehen, ist sie weiß geworden wie eine Leiche, und kaum habt Ihr auf diese schrecklichen Ereignisse angespielt, bekommt sie einen neuen Anfall. Was wollt Ihr denn noch wissen? Tuzzu und sein Vater haben alles bezeugt, als sie Modesta hierhergebracht haben und danach, mehrmals …«
    »Wenn Ihr gestattet, Madre, nicht alles.«
    »Ach was, das sind doch nur Einzelheiten.«
    »Aber wir haben diesen Mann, der sich als ihr Vater ausgegeben hat, nicht gefunden, weder zwischen den sterblichen Überresten von Mutter und Schwester noch … Madre, dieser Mann muß gefunden werden!«
    »Das ist eure Aufgabe. Die Jacke habt ihr doch gefunden, nicht wahr? Und sie ist wirklich aus blauem Samt, wie diese kleine Märtyrerin gesagt hat. Im Namen der heiligen Agate, der dasselbe Leid widerfahren ist wie diesem Kindchen, quält sie nicht länger! Seht Ihr nicht, wie sie sich krümmt? Geht, geht im Namen des Herren, der auf uns herabblickt! Ihr Carabinieri seid wirklich unmenschlich. Und Ihr, Schwester Costanza, steht nicht wie angewurzelt herum, sondern helft mir lieber, Modesta aufs Bett zu legen. Ja, genau so. Das arme Kind! Merkt Ihr, wie schwer sie ist? Das ist ein richtiger epileptischer Anfall. Und wenn sie vor dem Unglück noch nicht daran erkrankt war, wie wir von Tuzzu wissen, dann hat dieser Schicksalsschlag sie ein für allemal gezeichnet.«
    Wieder sagte mir die Stimme von Madre Leonora, was ich zu tun hatte: die Fäuste immer fester zusammenballen, so daß sich die Nägel noch tiefer ins Fleisch gruben. Immer noch besser dieser Schmerz, als dem Mann mit dem schwarzen Schnurrbart zu antworten, der mich mit seinen vielen Fragen dazu bringen konnte, das zu sagen, was ich nicht sagen wollte. Die Lider taten mir jetzt so weh, daß ich laut zu schreien begann, und zwar mit echter Stimme. So echt, daß die beiden Männer, die schon mein Weinen und die sanften Bitten von Madre Leonora verwirrt hatten, verschwanden, begleitet von dem aufgeregten Geraschel der langen Gewänder, die diese seltsamen großen Frauen trugen. Erst als man nichts mehr hörte als den leichten Atem von Madre Leonora, lockerte ich die Finger, aber ganz vorsichtig, damit sie es nicht bemerkte. Ich mußte mich langsam beruhigen, damit sie meine Absicht nicht begriff, mußte dem folgen, was mir ihre sanfte Stimme eingab. Was sagte sie jetzt? Was sollte ich tun?
    »Schhh, jetzt ist alles gut. Der böse schwarze Mann ist weg, und ich bin hier bei dir. Sie werden dich nicht mehr quälen, meine arme kleine Märtyrerin, an Körper und Seele gepeinigt wie die heilige Agate, unsere Schutzheilige! Ja, so ist’s recht, ganz sachte, beruhige dich. Hab keine Angst, der schwarze Mann ist nicht mehr da.«
    Das wußte ich zwar, aber ich wußte auch, daß der Zeitpunkt noch nicht gekommen war, die Augen zu öffnen. Das hatte sie mir noch nicht gesagt.
    »Sie sind weg, glaubst du mir das nicht? Du hast ja recht, daß du keinem mehr glaubst, nach alldem, was sie dir angetan haben, hast ja recht. Aber ich werde dich lehren, wieder Vertrauen zu fassen. Mir mußt du glauben, öffne die Augen, und laß mich in deinen schönen Augen lesen, daß du mir glaubst.«
    Jetzt hatte sie es gesagt. Endlich konnte ich die Augen öffnen. Einen Moment noch, und ich würde sie öffnen. Nicht nur mit der Stimme hatte sie es mir befohlen, sondern auch mit ihren glatten weißen Händen, noch glatter als die weiche, flauschige Decke und noch weißer und duftender als die Laken, die wie von Zauberhand an die Stelle der harten und schwarzen Bezüge des großen Bettes getreten waren, in dem ich früher immer geschlafen hatte … früher … als das Blut noch nicht gekommen war. Zum Glück hatte ich der Angst vor dem Feuer getrotzt, ohne zu Tuzzu zu laufen. Wenn ich nicht die Kraft gehabt hätte zu widerstehen, hätte Tuzzu flink wie ein Hase die anderen auch wieder gerettet.
    »Ja, genau so, mit diesen schönen Augen sollst du mich anschauen. Schön und klar. Und denk nicht mehr an dieses Feuer, das deinen Blick verdüstert. Denk nicht mehr daran, sondern bete und bitte die heilige Agate um das Wunder, dich alles vergessen zu lassen und deine Seele und den gepeinigten Körper zu heilen.«
    »Wer ist denn die heilige Agate?«

6
    »Jesus Maria, das weißt du nicht? Was man nicht alles erlebt in dieser armseligen Gegend! Sie haben dir nichts, aber auch gar nichts beigebracht. Nichts als Elend und Leid. Wenn du mir versprichst, das zu tun, was dir Doktor
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