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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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ist so weit.«
    Bridget überzeugte sie, sich wieder ins Bett zu legen, und dann begannen die langen Mühen in dieser einsamen Nacht.

    »Oh, Ma’am«, schrie Bridget plötzlich, »sie ist ganz blau, richtig blau.«
    »Ein Mädchen?«
    »Die Nabelschnur hat sich um ihren Hals gewickelt. Oh, heiliger Herr Jesus und alle Heiligen, sie ist erstickt, das arme kleine Ding.«
    »Wir müssen etwas tun, Bridget. Was können wir bloß tun?«
    »Oh, Mrs. Todd, Ma’am, sie ist tot. Gestorben, bevor sie gelebt hat.«
    »Nein, das darf nicht sein«, sagte Sylvie. Sie setzte sich auf dem rotweißen Schlachtfeld der blutigen Laken mühsam auf, das Baby hing noch an der Nabelschnur. Während Bridget gequälte Laute von sich gab, riss Sylvie die Schublade ihres Nachtkästchens auf und kramte wild in ihrem Inhalt.
    »Oh, Mrs. Todd«, jammerte Bridget, »legen Sie sich hin, da ist nichts mehr zu machen. Ich wünschte wirklich, Mr. Todd wäre da.«
    »Psst«, sagte Sylvie und hielt ihre Trophäe hoch – eine chirurgische Schere, die im Lampenschein schimmerte. »Man muss vorbereitet sein«, murmelte sie. »Halte das Baby nah an die Lampe, damit ich besser sehen kann. Schnell, Bridget. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
    Schnipp, schnapp.
    Übung macht den Meister.

Das weite sonnenbeschienene Hochland
    Mai 1945
    S ie saßen an einem Ecktisch in einem Pub in der Glasshouse Street. Der amerikanische Offizier, der sie mitgenommen hatte, als er sah, wie sie am Straßenrand außerhalb von Dover den Daumen hoben, hatte sie am Piccadilly abgesetzt. Sie hatten sich in Le Havre auf ein amerikanisches Truppentransporterschiff gedrängt, statt zwei Tage auf einen Flug zu warten. Technisch gesehen, war es möglich, dass sie sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatten, aber das war ihnen gleichgültig.
    Seit Piccadilly saßen sie im dritten Pub, und sie waren einhellig der Meinung, dass sie beide sehr betrunken, aber in der Lage waren, noch wesentlich betrunkener zu werden. Es war Samstagabend, und es war brechend voll. Da sie Uniform trugen, hatten sie nicht ein Bier selbst bezahlen müssen. Die Erleichterung, wenn nicht die Euphorie des Sieges lag noch in der Luft.
    »Also«, sagte Vic und hob das Glas, »auf unsere Rückkehr.«
    »Prost«, sagte Teddy, »auf die Zukunft.«
    Er war im November 43 abgeschossen und in den Stalag Luft VI in den Osten gebracht worden. Es war insofern nicht so schlimm gewesen, als es schlimmer hätte sein können, er hätte Russe sein können – die Russen wurden wie Tiere behandelt. Aber Anfang Februar 45 wurden sie mitten in der Nacht mit dem vertrauten Raus, raus! aus ihren Stockbetten getrieben und auf den Marsch nach Westen geschickt, fort von den vorrückenden Russen. Noch ein, zwei Tage, und sie wären befreit worden, es schien eine besonders grausame Wendung des Schicksals. Sie marschierten wochenlang und bekamen nur Hungerrationen zu essen, es war eiskalt, meistens hatte es zwanzig Grad unter null.
    Vic war ein frecher kleiner Offizier, der Navigator einer Lancaster, die über der Ruhr abgeschossen worden war. Der Krieg sorgte für seltsame Bettgenossen. Sie hatten sich auf dem Marsch gegenseitig aufrecht gehalten. Diese Kameradschaft rettete ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben, sie und die sehr seltenen Pakete vom Roten Kreuz.
    Teddy war nahe Berlin abgeschossen worden und konnte erst in letzter Sekunde aus dem Cockpit abspringen. Er hatte versucht, das Flugzeug ruhig zu halten, um seiner Mannschaft die Chance zum Absprung zu geben. Ein Kapitän verließ als letzter das sinkende Schiff. Dasselbe ungeschriebene Gesetz galt für Bomber.
    Die Halifax brannte in ihrer gesamten Länge, und er hatte sich damit abgefunden, dass es für ihn vorbei war. Irgendwie fühlte er sich leichter, sein Herz schlug schneller, und plötzlich wusste er, dass alles gut werden würde, dass der Tod, wenn er ihn holte, sich um ihn kümmern würde. Aber der Tod holte ihn nicht, denn sein australischer Funker kroch ins Cockpit, schnallte ihm den Fallschirm um und sagte: »Raus hier, du verdammter Idiot.« Er sah ihn nie wieder, er sah nie jemanden aus seiner Mannschaft wieder, wusste nicht, ob sie tot oder am Leben waren. Er sprang in letzter Sekunde, sein Fallschirm hatte sich kaum geöffnet, als er auf dem Boden aufprallte, und er hatte Glück, dass er sich nur einen Knöchel und ein Handgelenk brach. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, und die Gestapo kam und verhaftete ihn mit den unvergesslichen Worten:
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