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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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das Herz des Ungeheuers einschlich, und dort würde sie den schwarzen Tumor herausreißen, der dort wuchs und jeden Tag größer wurde.
    Und eines Tages würde sie die Schellingstraße entlanggehen und vor Photo Hoffmann stehen bleiben und die Kodaks und Leicas und Voigtländers im Schaufenster betrachten und die Tür öffnen und das leise Bimmeln der Glocke hören, das dem Mädchen hinter der Ladentheke ihre Ankunft mitteilte, das wahrscheinlich Guten Tag, gnädiges Fräulein oder vielleicht auch Grüß Gott sagen würde, weil wir uns im Jahr 1930 befinden und die Leute noch Grüß Gott und Tschüss sagen können statt des ewigen Heil Hitler und des absurden martialischen Hitlergrußes.
    Und Ursula wird ihre alte Brownie hinlegen und sagen: »Ich kann einfach den Film nicht mehr weitertransportieren«, und die flotte siebzehnjährige Eva Braun wird sagen: »Ich schau sie mir mal an.«

    Ihr schwoll das Herz in der Brust angesichts der Hochheiligkeit dieses Plans. Überall stand unmittelbar etwas bevor. Sie war sowohl Kriegerin als auch glänzender Speer. Sie war das Schwert, das in der tiefen Nacht aufblitzte, eine Lanze aus Licht, die die Dunkelheit durchschnitt. Dieses Mal würde sie keinen Fehler machen.
    Als alle schliefen und es im Haus ganz still war, stand Ursula auf und stellte sich auf den Stuhl vor dem offenen Fenster des kleinen Schlafzimmers auf dem Dachboden.
    Es ist Zeit, dachte sie. Irgendwo schlug aus Solidarität eine Uhr. Sie dachte an Teddy und Miss Woolf, an Roland und die kleine Angela, an Nancy und Sylvie. Sie dachte an Dr. Kellet und Pindar. Werde, der du bist, so wie du es gelernt hast. Sie wusste jetzt, was das war. Sie war Ursula Beresford Todd, und sie war eine Zeugin.
    Sie öffnete die Arme für die schwarze Fledermaus, und sie flogen aufeinander zu, umarmten sich in der Luft wie lange verlorene Seelen. Das ist Liebe, dachte Ursula. Und sie zu üben, macht sie vollkommen.

Seid tapfer
    Dezember 1930
    U rsula wusste alles über Eva. Sie wusste, wie sehr sie Mode mochte und Make-up und Klatsch. Sie wusste, dass sie Schlittschuh laufen und Ski fahren konnte und gern tanzte. Und deswegen hielt sich Ursula lange mit ihr bei den Kleidern im Oberpollinger auf, bevor sie zu Kaffee und Kuchen in ein Café gingen und oder im Englischen Garten ein Eis aßen und den Kindern auf dem Karussell zuschauten. Sie lief mit Eva und ihrer Schwester Gretl Schlittschuh. Sie wurde zu einem Abendessen bei den Brauns eingeladen. »Deine englische Freundin ist sehr nett«, sagte Frau Braun zu Eva.
    Sie erzählte ihnen, dass sie ihr Deutsch aufpolieren wollte, bevor sie zu Hause unterrichten würde. Eva seufzte vor Langeweile bei diesem Gedanken.
    Eva liebte es, fotografiert zu werden, und Ursula machte viele, viele Aufnahmen von ihr mit ihrer Brownie-Boxkamera, und dann klebten sie sie abends gemeinsam in Evas Album und bewunderten die unterschiedlichen Posen, die Eva eingenommen hatte.
    »Du solltest in Filmen mitspielen«, sagte Ursula, und Eva war lächerlich geschmeichelt. Ursula hatte sich gründlich über berühmte Schauspielerinnen in Hollywood, Deutschland und England, die neuesten Lieder und Tänze informiert. Sie war eine Frau, die sich für ein Küken interessierte. Sie nahm Eva unter ihre Fittiche, und Eva war überwältigt von ihrer neuen weltgewandten Freundin.
    Ursula wusste auch von Evas Vernarrtheit in den »älteren Mann«, den sie anhimmelte, dem sie in Cafés und Restaurants nachlief, wo sie vergessen in einer Ecke saß, während er endlose Gespräche über Politik führte. Eva nahm sie irgendwann zu diesen Treffen mit – Ursula war schließlich ihre beste Freundin. Eva wollte nur in Hitlers Nähe sein. Und auch Ursula wollte nichts anderes.
    Und Ursula wusste von dem Berg und dem Bunker. Und letztlich tat sie diesem frivolen Mädchen einen großen Gefallen, indem sie sich in ihr Leben einschlich.
    Und so wie sie sich daran gewöhnt hatten, dass Eva ständig dabei war, gewöhnten sie sich auch daran, dass ihre kleine englische Freundin ständig dabei war. Ursula war sympathisch, sie war eine Frau, sie war ein Niemand. Sie wurde ihnen so vertraut, dass niemand überrascht war, wenn sie allein kam und vor Bewunderung für den zukünftigen großen Mann einfältig lächelte. Er betrachtete grenzenlose Verehrung als etwas Selbstverständliches. So wenig an sich selbst zu zweifeln, dachte sie, musste großartig sein.
    Aber, Herrgott noch mal, es war langweilig. Über die Tische im Café Heck oder
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