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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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war auf der Suche nach Isobel, seiner außer Rand und Band geratenen Schwester, à Paris. Und Mrs. Glover, die in ihrem Zimmer auf dem Dachboden schnarchte wie ein Trüffelhund, wollte Sylvie nicht dabeihaben. Sie würde die Geschehnisse dirigieren wie ein Feldwebel Soldaten auf dem Exerzierplatz. Das Baby kam zu früh. Sylvie hatte damit gerechnet, dass es wie die anderen zu spät kommen würde. Der Mensch denkt und so weiter.
    »Oh, Ma’am«, schrie Bridget plötzlich, »sie ist ganz blau, richtig blau.«
    »Ein Mädchen?«
    »Die Nabelschnur hat sich um den Hals gewickelt. Oh, Maria, heilige Mutter Gottes. Sie ist erstickt, das arme kleine Ding.«
    »Sie atmet nicht? Gib sie mir. Wir müssen etwas tun. Was können wir bloß tun?«
    »Oh, Mrs. Todd, Ma’am, sie ist tot. Gestorben, bevor sie gelebt hat. Es tut mir schrecklich, schrecklich leid. Sie ist jetzt bestimmt ein kleines Engelchen im Himmel. Oh, wenn nur Mr. Todd da wäre. Es tut mir schrecklich leid. Soll ich Mrs. Glover aufwecken?«

    Das kleine Herz. Ein hilfloses kleines Herz, das verzweifelt schlug. Plötzlich aufgab wie ein Vogel, der vom Himmel fällt. Ein einziger Schuss.
    Es wurde dunkel.

Schnee
    11. Februar 1910
    U m Himmels willen, Mädchen, hör auf, rumzulaufen wie ein kopfloses Huhn, hol heißes Wasser und Handtücher. Hast du denn überhaupt keine Ahnung? Bist du in der Wildnis aufgewachsen?«
    »’tschuldigung, Sir.« Bridget machte einen kleinen Knicks, als wäre Dr. Fellowes ein entfernter Verwandter der königlichen Familie.
    »Ein Mädchen, Dr. Fellowes? Kann ich sie sehen?«
    »Ja, Mrs. Todd, ein kräftiges, kregles Mädchen.« Sylvie dachte, dass Dr. Fellowes vielleicht etwas zu dick auftrug mit seinen Alliterationen. Auch zu den besten Zeiten neigte er nicht zur Jovialität. Die Gesundheit seiner Patienten, insbesondere ihr Abgang und ihr Eintritt in diese Welt, schienen dazu geschaffen, ihn zu ärgern.
    »Sie wäre an der Nabelschnur um ihren Hals erstickt. Ich bin im letzten Augenblick in Fox Corner angekommen. Buchstäblich.« Dr. Fellowes hielt seine Chirurgenschere hoch, damit Sylvie sie bewundern konnte. Sie war klein und elegant, und die scharfen Spitzen waren gebogen. »Schnipp, schnapp«, sagte er. Sylvie machte sich im Geist eine Notiz, eine kleine, vage Notiz angesichts ihrer Erschöpfung und der sie verursachenden Umstände, für einen ähnlichen Notfall (der sehr unwahrscheinlich war) genau so eine Schere zu kaufen. Oder ein Messer, ein gutes scharfes Messer, das man stets bei sich trug wie das Räubermädchen in Die Schneekönigin.
    »Sie haben Glück gehabt, dass ich noch rechtzeitig gekommen bin«, sagte Dr. Fellowes, »bevor die Straßen wegen des Schnees unpassierbar wurden. Ich habe Mrs. Haddock, die Hebamme, rufen lassen, aber ich glaube, dass sie irgendwo vor Chalfont St. Peter im Schnee stecken geblieben ist.«
    »Mrs. Haddock? «,sagte Sylvie und runzelte die Stirn. Bridget lachte laut über den Namen und murmelte dann rasch: »’tschuldigung, ’tschuldigung, Sir.« Sylvie nahm an, dass sie und Bridget nahezu hysterisch waren. Kein Wunder.
    »Irischer Bauerntrampel«, murmelte Dr. Fellowes.
    »Bridget hilft in der Küche, sie ist selbst noch ein Kind. Ich bin ihr sehr dankbar. Es ging alles so schnell.« Sylvie wäre gern allein gewesen, aber sie war nie allein. »Sie müssen vermutlich bis morgen bleiben, Doktor«, sagte sie widerwillig.
    »Tja, vermutlich muss ich das«, sagte Dr. Fellowes ebenso widerwillig.
    Sylvie seufzte und schlug vor, dass er sich in der Küche ein Glas Brandy geben ließ. Und vielleicht etwas Schinken und Essiggurken. »Bridget wird sich um Sie kümmern.« Sie wollte ihn loswerden. Er war bei der Geburt aller ihrer drei (drei!) Kinder dabei gewesen, und sie konnte ihn nicht ausstehen. Nur ein Ehemann sollte sehen, was er sah. Er scharrte und stocherte mit seinen Instrumenten an ihren zartesten und geheimsten Körperteilen herum. (Aber wäre es ihr lieber, eine Hebamme namens Mrs. Haddock wäre die Geburtshelferin?) Nur Frauen sollten Frauenärzte sein. Die Chancen dafür standen schlecht.
    Dr. Fellowes blieb da, summte und druckste herum und beaufsichtigte, wie eine rotgesichtige Bridget den Neuankömmling wusch und wickelte. Bridget war das älteste von sieben Kindern, sie wusste wie man ein Neugeborenes behandelte. Sie war vierzehn, zehn Jahre jünger als Sylvie. Mit vierzehn hatte Sylvie noch kurze Röcke getragen und war in ihr Pony Tiffin verliebt gewesen. Und
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