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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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Gedanken lesen konnte. Eine absolut schreckliche Vorstellung.
    »Zuerst hat er gefrühstückt«, sagte Mrs. Glover, die im selben Atemzug zufrieden und missbilligend klang. »Der Mann hat Appetit, das steht fest.«
    »Ich könnte ein ganzes Pferd essen«, sagte Sylvie und lachte. Natürlich könnte sie das nicht. Sie dachte kurz an Tiffin. Sie nahm das waffenschwere silberne Besteck und machte sich über Mrs. Glovers pikante Hammelnierchen her. »Wunderbar«, sagte sie (waren sie das wirklich?), doch Mrs. Glover inspizierte bereits das Baby in der Wiege. (»Pummelig wie ein Spanferkel.«) Sylvie fragte sich müßig, ob Mrs. Haddock noch irgendwo vor Chalfont St. Peter im Schnee feststeckte.
    »Ich habe gehört, dass das Baby beinahe gestorben wäre«, sagte Mrs. Glover.
    »Nun ja …«, sagte Sylvie. Es war so ein schmaler Grat zwischen Leben und Tod. Ihr Vater, der Maler der gehobenen Gesellschaft, rutschte eines Abends, nachdem er exquisiten Cognac getrunken hatte, auf einem Isfahan-Teppich auf dem Treppenabsatz im ersten Stock aus. Niemand hörte ihn stürzen oder schreien. Er hatte gerade mit einem Porträt des Grafen von Balfour begonnen. Es wurde nie fertig. Klar.
    Danach stellte sich heraus, dass er verschwenderischer mit Geld umgegangen war, als Mutter und Tochter vermutet hatten. Er war insgeheim ein Spieler gewesen und hatte in der ganzen Stadt Schuldscheine hinterlassen. Für einen unerwarteten Tod hatte er nicht vorgesorgt, und bald schon wimmelte es in dem schönen Haus in Mayfair von Gläubigern. Ein Kartenhaus. Tiffin musste verkauft werden. Es brach Sylvie das Herz, sie trauerte mehr um das Pony als um ihren Vater.
    »Ich habe immer geglaubt, sein einziges Laster wären Frauen«, sagte ihre Mutter, die sich kurz auf einer Umzugskiste ausruhte, als würde sie für eine Pietà Modell sitzen.
    Sie sanken in vornehme, kultivierte Armut. Sylvies Mutter wurde blass und uninteressant, keine Lerchen jauchzten mehr für sie, während sie verblühte, verzehrt von Schwindsucht. Der Mann, den die siebzehnjährige Sylvie am Schalter im Postamt kennenlernte, bewahrte sie davor, Malermodell zu werden. Hugh. Ein aufsteigender Stern in der begüterten Welt des Bankwesens. Der Inbegriff bürgerlicher Respektabilität. Konnte sich ein schönes, aber mittelloses Mädchen mehr erhoffen?
    Lottie starb mit weniger Aufheben als erwartet, und Hugh und Sylvie heirateten still und leise an ihrem achtzehnten Geburtstag. (»So wirst du unseren Hochzeitstag nie vergessen«, sagte Hugh.) Die Flitterwochen verbrachten sie in Frankreich, eine wunderbare quinzaine in Deauville, bevor sie sich in semiländlicher Glückseligkeit nahe Beaconsfield in einem Haus niederließen, dessen Stil vage an Lutyens erinnerte. Es hatte alles, was man sich nur wünschen konnte – eine große Küche, einen Salon mit Verandatüren, die auf einen Rasen hinausführten, ein hübsches Wohnzimmer für alle Tage und mehrere Schlafzimmer, die darauf warteten, mit Kindern gefüllt zu werden. Auf der Rückseite des Hauses befand sich sogar ein kleiner Raum, in den Hugh sich zurückziehen konnte. »Ah, mein Refugium«, sagte er und lachte.
    In diskreter Entfernung war es von ähnlichen Häusern umgeben. Das Grundstück verfügte über eine Wiese und ein Dickicht niederer Bäume und jenseits davon einen im Frühling mit Glockenblumen übersäten Wald, durch den ein Bach floss. Der Bahnhof, nicht mehr als eine Haltestelle, ermöglichte es Hugh, in weniger als einer Stunde an seinem Bankschreibtisch zu sitzen.
    »Verschlafenes Nest«, sagte Hugh und lachte, als er Sylvie galant über die Schwelle trug. Es war ein relativ bescheidenes Haus (nicht zu vergleichen mit Mayfair), dennoch überschritt es ein bisschen ihre Mittel, stellte eine finanzielle Leichtfertigkeit dar, die sie beide überraschte.

    »Wir sollten dem Haus einen Namen geben«, sagte Hugh. »The Laurels, the Pines, the Elms.«
    »Aber nichts davon wächst in unserem Garten«, erklärte Sylvie. Sie standen an der Terrassentür des neu erworbenen Hauses und schauten auf die verwilderte Rasenfläche. »Wir brauchen einen Gärtner«, sagte Hugh. Das Haus war leer und warf ein Echo. Sie hatten noch nicht damit begonnen, es mit den Voysey-Teppichen und Morris-Stoffen und all den anderen ästhetischen Annehmlichkeiten eines Hauses des zwanzigsten Jahrhunderts einzurichten. Sylvie hätte lieber glücklich und zufrieden im Londoner Kaufhaus Liberty gelebt als in dem ehelichen Heim ohne
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