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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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Keschern in den Gezeitentümpeln am anderen Ende des Strands gefischt hatten, kehrten zurück. Pamela und Ursula blieben auf halbem Weg stehen, um im Wasser zu planschen, aber Maurice legte einen Zahn zu, lief zu Sylvie und warf sich in den Sand. Er hielt einen kleinen Krebs an der Schere, und Bridget kreischte bei seinem Anblick auf.
    »Gibt’s noch Fleischpastete?«, fragte er.
    »Benimm dich, Maurice«, ermahnte ihn Sylvie. Nach dem Sommer käme er in ein Internat. Sylvie war erleichtert.

    »Komm, wir springen über die Wellen«, sagte Pamela. Pamela war diktatorisch, aber auf nette Art, und Ursula war es fast immer zufrieden, sich ihren Plänen anzuschließen, und selbst wenn sie es nicht war, fügte sie sich.
    Ein Reifen rollte im Sand an ihnen vorbei, als würde er vom Wind getrieben, und Ursula wollte ihm nachlaufen, um ihn mit seinem Besitzer wiederzuvereinigen, aber Pamela sagte: »Nein, komm mit, wir wollen planschen.« Sie legten ihre Kescher in den Sand und wateten in die Brandung. Es war ein Rätsel, warum das Wasser, sosehr sie in der Sonne auch schwitzten, immer eiskalt war. Sie kreischten und quiekten wie gewöhnlich, bevor sie sich an den Händen fassten und auf die Wellen warteten. Als sie kamen, waren sie enttäuschend klein, nicht mehr als ein Gekräusel mit Spitzenbesatz. Sie wateten weiter hinaus.
    Jetzt gab es überhaupt keine Wellen mehr, nur noch ein schwaches Ansteigen und Sinken des Wassers, das sie etwas hochhob und dann wieder absetzte. Ursula drückte Pamelas Hand fester, wenn die Dünung anstieg. Das Wasser reichte ihr bis zur Taille. Pamela drängte weiter hinaus wie eine Galionsfigur an einem Bug, die durch hohe Wogen pflügt. Jetzt reichte Ursula das Wasser bis zu den Achselhöhlen, und sie fing an zu schreien und an Pamelas Hand zu zerren, wollte verhindern, dass sie noch weiter hinauswatete. Pamela blickte über die Schulter zu ihr und sagte: »Hör auf, sonst fallen wir beide um«, und deswegen sah sie die riesige Welle nicht, die sich vor ihr auftürmte. Im nächsten Augenblick war sie über sie hereingebrochen und wirbelte sie herum, als wären sie Blätter.
    Ursula spürte, wie sie nach unten gezogen wurde, tiefer und tiefer, als wäre sie meilenweit draußen auf dem Meer und nicht in Sichtweite des Ufers. Ihre kurzen Beine traten zu, um Halt auf dem Sand zu finden. Wenn sie nur stehen und gegen die Wellen kämpfen könnte, aber sie fand keinen Sand, um darauf zu stehen, und sie begann, Wasser zu schlucken und in Panik um sich zu schlagen. Es würde doch bestimmt jemand kommen, Bridget oder Sylvie, und sie retten? Oder Pamela – wo war sie?
    Niemand kam. Und es war nur noch Wasser da. Wasser und mehr Wasser. Ihr hilfloses kleines Herz schlug rasend, ein in ihrer Brust gefangener Vogel. Tausend Bienen summten in den Perlmuttwindungen ihres Ohrs. Keine Luft. Ein ertrinkendes Kind, ein vom Himmel fallender Vogel.
    Es wurde dunkel.

Schnee
    11. Februar 1910
    B ridget nahm das Frühstückstablett, und Sylvie sagte: »Oh, lass das Schneeglöckchen da. Stell es auf den Nachttisch.« Auch das Baby behielt sie bei sich. Das Feuer brannte jetzt lichterloh, und das gleißende Schneelicht, das durch das Fenster fiel, wirkte sowohl heiter als auch seltsam unheilvoll. An den Hausmauern hatten sich Schneewehen gebildet, die gegen sie drückten, sie begruben. Sie befanden sich in einem Kokon. Sie stellte sich vor, wie Hugh sich heldenhaft durch den Schnee nach Hause kämpfte. Er war jetzt drei Tage fort und suchte nach seiner Schwester Isobel. Gestern (wie lange das schon zurück zu liegen schien) war aus Paris ein Telegramm eingetroffen: DIE BEUTE IST UNTERGETAUCHT STOP VERFOLGE SIE STOP, obwohl Hugh nicht wirklich ein Jägersmann war. Sie musste ebenfalls ein Telegramm schicken. Was sollte sie schreiben? Etwas Kryptisches. Hugh mochte Rätsel. WIR WAREN VIER STOP DU BIST FORT ABER WIR SIND IMMER NOCH VIER STOP (Bridget und Mrs. Glover zählten nicht). Oder etwas Prosaischeres. BABY GEBOREN STOP ALLES IN ORDNUNG STOP. Stimmte das? War alles in Ordnung? Das Baby wäre beinahe gestorben. Es hatte keine Luft bekommen. Was, wenn mit ihm nicht alles in Ordnung war? Sie hatten in der Nacht über den Tod triumphiert. Sylvie fragte sich, wann der Tod Rache nehmen würde.
    Schließlich schlief Sylvie ein und träumte, dass sie in ein neues Haus gezogen war und nach ihren Kindern suchte, durch die fremden Räume lief und ihre Namen rief, aber sie wusste, dass sie für immer verschwunden waren und
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