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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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Seid tapfer
    November 1930
    E in Mief aus Tabakrauch und feuchtkalter Luft schlug ihr entgegen, als sie das Café betrat. Draußen regnete es, und Wasser zitterte noch wie empfindliche Tautropfen auf den Pelzmänteln einiger Frauen im Saal. Ein Regiment weißbeschürzter Kellner lief beflissen herum, um die Bedürfnisse der müßigen Münchner zu erfüllen – Kaffee, Kuchen, Klatsch.
    Er saß an einem Tisch am anderen Ende des Raums, wie immer umgeben von Vasallen und Speichelleckern. Auch eine Frau war dabei, die sie noch nie zuvor gesehen hatte – eine stark geschminkte, dauergewellte Platinblonde –, dem Aussehen nach zu urteilen eine Schauspielerin. Die Blondine zündete sich eine Zigarette an, machte eine anzügliche Vorführung daraus. Alle Welt wusste, dass er züchtige, bodenständige Frauen vorzog, wenn möglich Frauen aus Bayern. Ständig und überall Dirndl und Wadenstrümpfe, Gott steh uns bei.
    Der Tisch war reich gedeckt. Bienenstich, Gugelhupf, Käsekuchen. Er aß ein Stück Kirschtorte. Er liebte Kuchen. Kein Wunder, dass er so pastös aussah, andererseits erstaunlich, dass er kein Diabetiker war. Der leicht abstoßende Körper (sie dachte an Teig) unter den Kleidern war noch nie öffentlichen Blicken ausgesetzt gewesen. Kein männlicher Mann. Er lächelte, als er sie sah, erhob sich halb, sagte: »Guten Tag, gnädiges Fräulein«, und deutete auf den Stuhl neben sich. Der Schleimer, der darauf saß, sprang auf und machte ihn frei.
    »Unsere englische Freundin«, sagte er zu der Blondine, die bedächtig Rauch ausblies und sie desinteressiert musterte, bevor sie schließlich sagte: »Guten Tag.« Eine Berlinerin.
    Sie stellte ihre Handtasche, deren Inhalt schwer wog, auf den Boden neben ihren Stuhl und bestellte Schokolade. Er bestand darauf, dass sie den Pflaumenstreusel probierte.
    »Es regnet«, sagte sie auf Deutsch, um etwas zu sagen.
    »Ja, es regnet«, sagte er auf Englisch mit starkem Akzent. Er lachte, zufrieden mit seinem Versuch. Auch alle anderen am Tisch lachten. »Bravo«, sagte jemand. »Sehr gutes Englisch.« Er war gut gelaunt, tippte sich amüsiert lächelnd mit dem Zeigefinger gegen die Lippen, als horchte er auf eine Melodie in seinem Kopf.
    Der Streuselkuchen war köstlich.
    »Entschuldigung«, murmelte sie, langte hinunter in ihre Tasche und kramte nach einem Taschentuch. Die Ecken waren mit Spitze versehen, ein Monogramm mit ihren Initialen »UBT« war darauf gestickt – ein Geburtstagsgeschenk von Pammy. Sie tupfte wohlerzogen die Krümel von ihren Lippen und neigte sich erneut hinunter, um das Taschentuch in die Tasche zurückzustecken und den schweren Gegenstand, der darin lag, herauszunehmen. Den alten Armeerevolver ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg, einen Webley Mark V.
    Eine hundertmal geübte Bewegung. Ein Schuss. Auf die Schnelligkeit kam es an, doch nachdem sie die Waffe gezogen hatte und damit auf sein Herz zielte, war da ein Augenblick, eine in der Zeit schwebende Blase, als alles innezuhalten schien.
    »Führer«, sagte sie und brach den Zauber. »Für Sie.«
    Um den Tisch herum wurden Pistolen aus Holstern gerissen und auf sie angelegt. Ein Atemzug. Ein Schuss.
    Ursula drückte ab.
    Es wurde dunkel.

Schnee
    11. Februar 1910
    E in eisiger Luftzug, ein frostiger Hauch auf plötzlich ungeschützter Haut. Sie ist ohne Vorwarnung aus dem Drinnen im Draußen, und die vertraute, nasse, tropische Welt ist verschwunden. Hilflos den Elementen ausgesetzt. Eine gepulte Krabbe, eine geschälte Nuss.
    Kein Atem. Darauf war die ganze Welt reduziert. Ein Atemzug.
    Kleine Lungen wie Libellenflügel, die sich in der fremden Atmosphäre nicht entfalten können. Keine Luft in der strangulierten Röhre. Das Summen von tausend Bienen in den Perlmuttwindungen eines winzigen Ohrs.
    Panik. Das ertrinkende Mädchen, der herabstürzende Vogel.

    »Dr. Fellowes sollte längst da sein«, sagte Sylvie und stöhnte. »Warum ist er noch nicht da? Wo ist er?« Tautropfengroße Schweißperlen auf der Haut, ein Pferd, das sich dem Ende eines harten Parcours nähert. Das Feuer im Schlafzimmer brannte so stark wie im Heizkessel eines Schiffs. Die dicken Brokatvorhänge fest zugezogen, um den Feind auszuschließen, die Nacht. Die schwarze Fledermaus.
    »Der Mann steckt bestimmt im Schnee fest, Ma’am. Draußen ist die Hölle los. Die Straße wird gesperrt sein.«
    Sylvie und Bridget mussten das Martyrium allein durchstehen. Alice, das Stubenmädchen, besuchte ihre kranke Mutter. Und Hugh
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