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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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für ihre alte Ewbank-Teppichkehrmaschine, aber die Spannung reichte nicht aus. »Gott sei Dank«, sagte Sylvie.

Juli 1914
    D urch die offene Terrassentür beobachtete Sylvie, wie Maurice ein improvisiertes Tennisnetz errichtete, was bedeutete, dass er auf fast alles in seiner Nähe mit einem Holzhammer eindrosch. Kleine Jungen waren ihr ein Rätsel. Die Befriedigung, die sie daraus zogen, stundenlang Stöcke oder Steine zu werfen, das zwanghafte Sammeln unbelebter Objekte, die brutale Zerstörung der fragilen Welt um sie herum, das alles schien nicht zu den Männern zu passen, zu denen sie eigentlich werden sollten.
    Lautes Geplapper im Eingang kündigte die frohgemute Ankunft von Margaret und Lily an, einst Schulfreundinnen und jetzt seltene Gäste, die mit bunten Schleifen versehene Geschenke für das neue Baby, Edward, mitbrachten.
    Margaret war Künstlerin, militante Junggesellin, eventuell jemandes Geliebte, eine skandalöse Möglichkeit, die Sylvie Hugh gegenüber unerwähnt gelassen hatte. Lily war Fabierin, eine betuchte Suffragette, die für ihre Überzeugungen nichts riskierte. Sylvie dachte an gefesselte Frauen, denen Schläuche in den Hals geschoben wurden, und hob schützend eine Hand an den eigenen hübschen weißen Hals. Lilys Mann, Cavendish (der Name eines Hotels, aber doch nicht eines Mannes), hatte Sylvie bei einem Tanztee einmal mit seinem ziegenbockartigen, nach Zigarre riechenden Körper gegen eine Säule gedrückt und etwas so Empörendes vorgeschlagen, dass ihr bei dem Gedanken daran vor Verlegenheit jetzt noch ganz heiß wurde.
    »Ah, frische Luft«, rief Lily, als Sylvie sie in den Garten führte. »Es ist so ländlich hier.« Sie gurrten wie Ringeltauben – oder wie Straßentauben, diese mindere Spezies – über dem Kinderwagen und bewunderten das Baby fast so sehr, wie sie Sylvie zu ihrer gertenschlanken Figur beglückwünschten.
    »Ich lasse den Tee bringen«, sagte Sylvie, die bereits müde war.

    Sie hatten einen Hund. Einen großen, herumstromernden französischen Mastiff namens Bosun. »Der Name von Byrons Hund«, sagte Sylvie. Ursula hatte keine Ahnung, wer der mysteriöse Byron war, aber er hatte anscheinend keinerlei Interesse daran, den Hund von ihnen zurückzufordern. Bosun hatte eine weiche, lockere, pelzige Haut, die unter Ursulas Fingern wegglitt, und sein Atem roch nach dem Hammelhals, den Mrs. Glover zu ihrem Abscheu für ihn auskochen musste. Es war ein guter Hund, sagte Hugh, ein verantwortungsbewusster Hund, der Menschen aus brennenden Gebäuden holte und sie vor dem Ertrinken rettete.
    Pamela setzte Bosun gern eine alte Mütze auf und band ihm einen Schal um und tat dann so, als wäre er ihr Baby, obwohl sie jetzt ein richtiges Baby hatten – einen Jungen, Edward. Alle nannten ihn Teddy. Das neue Baby schien eine Überraschung für ihre Mutter zu sein. »Ich weiß gar nicht, wo er herkommt.« Sylvies Lachen klang wie Schluckauf. Sie trank auf dem Rasen Tee mit zwei Schulfreundinnen »aus ihrer Londoner Zeit«, die gekommen waren, um den Neuling in Augenschein zu nehmen. Alle drei trugen hübsche leichte Kleider und große Strohhüte und saßen auf Korbstühlen, tranken Tee und aßen Mrs. Glovers Sherrykuchen. Ursula und Bosun saßen in höflicher Entfernung im Gras und hofften auf Brosamen.
    Maurice hatte ein Netz gespannt und versuchte ohne große Begeisterung, Pamela das Tennisspielen beizubringen. Ursula war damit beschäftigt, für Bosun eine Krone aus Gänseblümchen zu flechten. Sie hatte ungeschickte Wurstfinger. Sylvie hatte die langen flinken Finger einer Künstlerin oder Pianistin. Sie spielte auf dem Klavier im Salon (»Chopin«). Nach dem Abendessen sangen sie manchmal im Kanon, aber Ursula schaffte es nie, mit ihrem Part zur richtigen Zeit einzustimmen. (»Was für ein Tölpel«, sagte Maurice. »Übung macht den Meister«, sagte Sylvie.) Wenn sie den Deckel des Klaviers öffnete, roch es wie in einem alten Koffer. Der Geruch erinnerte Ursula an ihre Großmutter Adelaide, die ihre Tage schwarz gewandet und Madeira trinkend verbrachte.
    Der Neuankömmling lag in einem riesigen Kinderwagen unter der großen Buche. Sie alle hatten in dieser Herrlichkeit gelegen, aber keiner von ihnen erinnerte sich daran. Vom Verdeck baumelte ein kleiner silberner Hase, und das Baby hatte es gemütlich unter einer Decke, die »von Nonnen bestickt war«, obwohl nie jemand erklärte, wer diese Nonnen waren und warum sie ihre Tage damit verbrachten, kleine gelbe Enten zu
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