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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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hatte keine Ahnung gehabt, woher die kleinen Kinder kamen, sogar in ihrer Hochzeitsnacht war sie noch ratlos gewesen. Ihre Mutter, Lottie, hatte Andeutungen gemacht, war jedoch vor anatomischer Präzision zurückgeschreckt. Eheliche Beziehungen zwischen Mann und Frau schienen mysteriöserweise etwas mit Lerchen zu tun zu haben, die im Morgenrot jauchzen. Lottie war eine zurückhaltende Frau. Manche hätten sie als narkoleptisch bezeichnet. Ihr Mann, Sylvies Vater, Llewellyn Beresford war ein berühmter Maler der gehobenen Gesellschaft, aber überhaupt kein Bohemien. Keine Nacktheit und kein dekadentes Verhalten in seinem Haushalt. Er hatte Königin Alexandra gemalt, als sie noch Prinzessin war. Er behauptete, sie sei sehr nett gewesen.
    Sie lebten in einem guten Haus in Mayfair, und Tiffin stand in einem Stall in der Nähe des Hyde Park. Um sich in düsteren Momenten aufzuheitern, stellte sich Sylvie vor, dass sie wieder in der sonnigen Vergangenheit lebte, bequem auf ihrem Damensattel auf Tiffins breitem Rücken säße und an einem klaren Frühlingsmorgen die Rotten Row entlangtrottete, die Bäume in voller Blüte.
    »Wie wäre es mit heißem Tee und einem schönen gebutterten Toast, Mrs. Todd?«, fragte Bridget.
    »Das wäre wunderbar, Bridget.«
    Endlich wurde Sylvie das Baby gereicht, bandagiert wie eine Pharaonenmumie. Zärtlich strich sie über die Pfirsichwange und sagte: »Hallo, meine Kleine«, und Dr. Fellowes wandte sich ab, um nicht Zeuge dieser süßlichen Liebesbekundungen zu werden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er alle Kinder in einem neuen Sparta aufziehen lassen.
    »Nun, ein kleiner kalter Imbiss wäre vielleicht nicht verkehrt«, sagte er. »Gibt es zufälligerweise noch etwas von Mrs. Glovers ausgezeichnetem Senfgemüse?«

Vier Jahreszeiten machen aus ein Jahr
    11. Februar 1910
    S ylvie wurde von einem blendenden Splitter Sonnenlicht geweckt, der wie ein glänzendes silbernes Schwert die Vorhänge durchschnitt. Sie lag matt im Bett, angetan mit Spitze und Kaschmir, als Mrs. Glover das Zimmer betrat, ein riesiges Frühstückstablett stolz in den Händen. Nur ein Anlass von nicht unerheblicher Bedeutung war in der Lage, Mrs. Glover so weit aus ihrem Herrschaftsgebiet zu locken.
    Ein einzelnes halb erfrorenes Schneeglöckchen hing in der kleinen Vase auf dem Tablett. »Oh, ein Schneeglöckchen!«, sagte Sylvie. »Die erste Blume, die ihr armes Köpfchen aus der Erde schiebt. Wie tapfer!«
    Mrs. Glover, die Blumen weder Mut noch irgendeinen anderen Charakterzug, ob rühmlich oder nicht, zutraute, war verwitwet und erst seit ein paar Wochen in Fox Corner. Vor ihrem Erscheinen war eine Frau namens Mary bei ihnen angestellt gewesen, die häufig bucklig herumstand und die Braten anbrennen ließ. Wenn überhaupt, dann neigte Mrs. Glover dazu, die Gerichte nicht lange genug zu garen. Im wohlhabenden Haushalt von Sylvies Kindheit war die Köchin »Köchin« genannt worden, doch Mrs. Glover zog »Mrs. Glover« vor. Es machte sie unersetzlich. In Gedanken nannte Sylvie sie eigensinnig immer noch Köchin.
    »Danke, Köchin.« Mrs. Glover blinzelte behäbig wie eine Echse. »Mrs. Glover«, korrigierte sich Sylvie.
    Mrs. Glover stellte das Tablett auf dem Bett ab und zog die Vorhänge auf. Das Licht war außergewöhnlich, die schwarze Fledermaus bezwungen.
    »Es ist so hell«, sagte Sylvie und schirmte die Augen mit der Hand ab.
    »So viel Schnee«, sagte Mrs. Glover und schüttelte den Kopf auf eine Weise, die entweder Verwunderung oder aber Abscheu zum Ausdruck brachte. Bei Mrs. Glover wusste man oft nicht so recht.
    »Wo ist Dr. Fellowes?«, fragte Sylvie.
    »Er musste zu einem Notfall. Ein von einem Bullen halb totgetrampelter Bauer.«
    »Wie schrecklich.«
    »Ein paar Männer aus dem Dorf sind gekommen und haben versucht, sein Automobil auszugraben, aber letztlich hat ihn mein George hingebracht.«
    »Ah«, sagte Sylvie, als würde sie plötzlich etwas verstehen, was ihr unklar gewesen war.
    »Und man nennt es auch noch Pferdestärken«, sagte Mrs. Glover verächtlich und wirkte dabei selbst wie ein Bulle. »Das kommt davon, wenn man sich auf diese neumodischen Maschinen verlässt.«
    »Mhm«, sagte Sylvie, die so festen Überzeugungen nur ungern widersprach. Sie war überrascht, dass Dr. Fellowes gegangen war, ohne noch einmal nach ihr oder dem Baby zu sehen.
    »Er hat nach Ihnen geschaut. Sie haben geschlafen«, sagte Mrs. Glover. Sylvie fragte sich bisweilen, ob Mrs. Glover
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