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Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Die Unvollendete: Roman (German Edition)

Titel: Die Unvollendete: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Atkinson
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gestrichenen Zimmer. Es hatte ein großes Fenster, und vor dem Fenster stand eine Rosskastanie, die ihre Blätter noch nicht abgeworfen hatte. Sie drehte den Kopf zur anderen Seite und sah Dr. Kellet.
    »Deine Nase ist gebrochen«, sagte Dr. Kellet. »Wir glauben, dass dich jemand überfallen hat.«
    »Nein«, sagte sie. »Ich bin gestürzt.«
    »Ein Pfarrer hat dich gefunden. Er hat dich in einem Taxi ins St.-George’s-Krankenhaus gebracht.«
    »Aber was tun Sie hier?«
    »Dein Vater hat sich mit mir in Verbindung gesetzt«, sagte Dr. Kellet. »Er wusste nicht, wen er sonst kontaktieren sollte.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Also, als du im St. George’s angekommen bist, hast du nicht aufgehört zu schreien. Sie haben gedacht, dass dir etwas Schreckliches zugestoßen sein muss.«
    »Aber das ist nicht das St. George’s, oder?«
    »Nein«, sagte er freundlich. »Das ist eine private Klinik. Ruhe, gutes Essen und so weiter. Es gibt einen schönen Garten. Ich denke immer, dass ein schöner Garten guttut, du nicht?«

    »Die Zeit ist nicht zirkulär«, sagte sie zu Dr. Kellet. »Sie ist wie … ein Palimpsest.«
    »Ach, du liebe Zeit«, sagte er. »Das klingt sehr irritierend.«
    »Und Erinnerungen befinden sich manchmal in der Zukunft.«
    »Du hast eine alte Seele«, sagte er. »Das kann nicht leicht sein. Aber das Leben liegt noch vor dir. Es muss gelebt werden.« Er war nicht mehr ihr Arzt, er war pensioniert, erklärte er, er war »nur ein Besucher«.
    In der Klinik hatte sie das Gefühl, als leide sie an einer milden Form von Schwindsucht. Tagsüber saß sie auf der sonnigen Terrasse und las zahllose Bücher, und Pflegerinnen versorgten sie mit Essen und Trinken. Sie schlenderte durch den Garten, führte höfliche Gespräche mit Ärzten und Psychiatern, unterhielt sich mit anderen Patienten (auf ihrer Station zumindest. Die wahrhaft Verrückten waren im Dachgeschoss untergebracht wie Mrs. Rochester). In ihrem Zimmer standen sogar frische Blumen und eine Schale mit Äpfeln. Ihr Aufenthalt hier musste ein Vermögen kosten.
    »Es muss sehr teuer sein«, sagte sie zu Hugh, als er sie besuchte, was er häufig tat.
    »Izzie zahlt«, sagte er. »Sie besteht darauf.«

    Dr. Kellet zündete nachdenklich seine Meerschaumpfeife an. Sie saßen auf der Terrasse. Ursula dachte, dass sie hier gern den Rest ihres Lebens verbringen würde. Es war so wunderbar einfach.
    »Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis   …«, sagte Dr. Kellet.
    » … und hätte allen Glauben, also dass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts«, fuhr Ursula fort.
    » Caritas ist natürlich Liebe. Aber das weißt du ja.«
    »Ich bin nicht ohne Liebe«, sagte Ursula. »Warum zitieren wir das Hohelied der Liebe aus dem Brief an die Korinther? Ich dachte, Sie sind Buddhist.«
    »Oh, ich bin nichts«, sagte Dr. Kellet. »Und natürlich auch alles«, fügte er hinzu – etwas elliptisch Ursulas Ansicht nach.
    »Die Frage ist«, sagte er, »hast du genug?«
    »Genug wovon?« Das Gespräch war ihr nicht mehr ganz nachvollziehbar, aber Dr. Kellet war mit den Anforderungen seiner Meerschaumpfeife beschäftigt und antwortete nicht. Dann wurde Tee gebracht.
    »Sie haben hier einen exzellenten Schokoladenkuchen«, sagte Dr. Kellet.
    *
    »Geht’s dir wirklich besser, kleiner Bär?«, fragte Hugh, als er ihr fürsorglich beim Einsteigen in den Wagen half. Er war mit dem Bentley gekommen, um sie abzuholen.
    »Ja«, sagte sie. »Absolut.«
    »Gut. Fahren wir nach Hause. Du hast uns gefehlt.«
    *
    Sie hatte so viel kostbare Zeit verschwendet, aber jetzt hatte sie einen Plan, dachte sie, als sie wach in ihrem Bett in Fox Corner lag. Der Plan beinhaltete zweifellos Schnee. Der silberne Hase, die tanzenden grünen Blätter. Und so weiter. Deutsch, nicht alte Sprachen, und anschließend ein Kurs in Stenographie und Schreibmaschineschreiben und vielleicht daneben noch Esperanto nur für den Fall, dass Utopia Wirklichkeit werden sollte. Mitgliedschaft in einem örtlichen Schützenverein und eine Bewerbung für eine Stelle in einem Büro irgendwo, eine Weile arbeiten und Geld auf die Seite legen – nichts Ungehöriges. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen und den Rat ihres Vaters befolgen, obwohl er ihn ihr noch nicht gegeben hatte, sie würde den Kopf einziehen und ihr Licht unter den Scheffel stellen. Und dann, wenn sie bereit wäre, hätte sie genug zum Leben, während sie sich tief in
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