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Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out

Titel: Die Umarmung des Todes - Kirino, N: Umarmung des Todes - Out
Autoren: Natsuo Kirino
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Viertel jetzt da – lässig, kraftlos. Doch sobald es erwacht war, würde es mit wilder, unverhohlener Brutalität seine Beute jagen. Das war Satakes Welt: verkommen und unanständig, gefräßig und niederträchtig, voll geiler Lust. Die Türen, die sie seit der Entscheidung für die Nachtschicht in der Lunchpaket-Fabrik aufgemacht hatte, führten sie also letztlich hierher, in Satakes Welt, in die sie bislang nie einen Fuß gesetzt hatte.
    Ihr kam die Idee, jetzt gleich dorthin zu gehen und sich den Ort anzusehen, wo einmal Satakes Spielkasino gewesen war. Der Gedanke wühlte das Gefühlschaos in ihr auf, und plötzlich kam alles wieder hoch: die Leere und die trostlose Trauer, die sie aushalten musste, während sie sich zwei Tage lang, ohne einen Bissen zu essen, in einem Hotelzimmerbett hin- und hergewälzt hatte. Sie würde Satake nie mehr wiedersehen. Tief im Inneren spürte sie die Berührung seines Körpers, und sie stieß einen leisen Schrei aus, der einem Stöhnen glich. Sie wollte diesen Mann so gerne wiedersehen.
    Da drüben in Kabuki-chō würde sie die Luft einatmen, die er geatmet hatte, würde die Bilder und Szenen sehen, die er tagtäglich vor Augen gehabt hatte. Und dann würde sie sich einen Mann wie ihn suchen und Satakes Traum nachjagen. In Masako keimte neue, längst verloren geglaubte Hoffnung auf.
    Sie drehte sich auf dem Absatz um und wollte losrennen. Aber auf dem gewachsten, sorgfältig gebohnerten Fliesenboden rieben sich die für ihr Alter und ihr Vorhaben unpassenden Turnschuhe, dass es ohrenbetäubend quietschte. Erschrocken über das Geräusch, blieb Masako stehen. Sie drehte sich zum Fenster um. Für einen Augenblick meinte sie dort draußen in die Finsternis der stillgelegten Fabrik zu blicken.

    Lass es sein, sagte sie sich.
    Sie würde nur die Gefangene Satakes werden, so wie er in seinem Traum aus der Vergangenheit gefangen gewesen war. So konnte und wollte sie nicht weiterleben. Vielleicht war nur ein außergewöhnlicher Mann wie Satake überhaupt in der Lage, eine solche Vorstellung aufrechtzuerhalten. Ihm, der weder vor noch zurück konnte, war nichts anderes übrig geblieben, als sich immer tiefer in sein eigenes Herz zu graben. Es war der Traum eines Mannes, der sich mit jener Frau in der Vergangenheit eingeschlossen hatte und dort die Freiheit seiner Seele fand.
    Aber was wurde dann aus ihr, was wurde aus der Frau, die sie bisher gewesen war? Sie betrachtete ihre Fingernägel, die so kurz geschnitten waren, dass nur noch das Nagelbett zu sehen war. Wegen der Arbeit in der Lunchpaket-Fabrik hatte sie sie in den vergangenen zwei Jahren nicht ein einziges Mal wachsen lassen. Ihre blassblauen Hände waren rau und rissig durch den übermäßigen Gebrauch von Desinfektionsmittel. Die zwanzig Jahre Plackerei in der Bank. Die Geburt des Kindes, die Hausarbeit, das Familienleben. Was sollte das alles, was sollten all die Tage, Monate, Jahre? Sie hatten auf ihrem Körper Spuren hinterlassen, hatten sie geprägt und unverkennbar zu dem gemacht, was sie war: Masako Katori, und niemand anders. Satake hatte in einem leeren Traum gelebt, sie lebte in der Wirklichkeit, die sie von einem Winkel zum anderen auskostete. Masako begriff, dass die Freiheit, die sie haben wollte, eine andere war als die, nach der Satake verlangt hatte.
     
    Ruhigen Schrittes ging Masako zum Fahrstuhl und drückte entschlossen den Abwärtsknopf. Sie würde sich ein Flugticket kaufen. Irgendwo musste es ihre eigene Freiheit geben, die anders war als die von Satake, als die von Yoshië oder Yayoi, ganz bestimmt. Wenn die Türen hinter ihr ins Schloss gefallen waren, blieb ihr eben nichts weiter übrig, als neue Türen zu finden, die sie aufmachen konnte. Gleich neben sich hörte sie den Aufzug heraufkommen. Das Geräusch ähnelte dem Heulen des Windes.

Copyright © der Originalausgabe 1997 by Natsuo Kirino Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003
    by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
German translation rights arranged with Kōdansha Ltd.
through Japan Foreign Rights Centre
Umschlagfoto: Photonica/Singer
    eISBN : 978-3-641-03213-5
     
    www.goldmann-verlag.de
    www.randomhouse.de
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