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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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gezogen, und die Resultate, so kommt es Fokko vor, besaßen allesamt einen melancholischen Charakter. So auch die letzte Eintragung: Es gibt keine freie Entscheidung, weil es keine freie Erkenntnis gibt. Wir existieren lediglich in den engen Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit, wir unterscheiden uns in summa nicht von einem Käfer, der über ein Blatt läuft, um in die Nähe eines Sonnenstrahls zu gelangen.
    Fokko schließt das Büchlein und wiegt es in der Hand. Soll er es zu den anderen Dingen zurückgeben? Er holt abermals ein Buch aus dem Karton und findet den selben Namen verzeichnet: Hermann-Josef Sparenberg . Es ist eine persönliche Hinterlassenschaft, und er denkt, daß es nicht rechtens wäre, diesen Nachlaß auseinanderzureißen, nur weil er offenbar für die Müllkippe bestimmt ist. Oder darf er einstecken und mitnehmen, was ihm gefällt, weil sich auch so, durch eine läßliche Sünde, das Motto des Verstorbenen erfüllen würde? Hat nicht im Moment der Niederschrift schon festgestanden, daß ein gewisser Fokko van Steen fünfzig Jahre später in einer finsteren, regnerischen Nacht die Aufzeichnungen in all dem Müll finden und vor dem endgültigen Verschwinden aus der Welt erretten würde? Dann aber darf er alles und jedes nehmen, alles und jedes tun, weil es dadurch in der vorauseilenden Zeit aufgeschrieben ist. So aber würde im gigantischen Anschreibebuch der Geschichte dauernd alles geändert, je nach dem, von wo der unstete Wind menschlicher Entscheidungen weht.
    Oder ist alles Zufall? Eigentlich hat er sich angewöhnt, an diesen Bruder Leichtfuß kein Gran Glauben mehr zu verschwenden, aber kann es denn die Bestimmung dieser Dinge sein, auf der Müllkippe zu verschwinden? Und welche Bestimmung hat ihn selbst in den Container verschlagen?
    Ihm ist wirr im Kopf. Er legt das Buch zurück, arrangiert die restlichen Dinge darüber, wie er sie vorgefunden hat, auch die Kladde, und erst, als er den Deckel des Kartons schon wieder geschlossen hat und sich eben erheben will, um den Sarkophag ein für allemal zu verlassen, fällt sein Blick auf das Holzkästchen. Er nimmt es in die Hand, hebt es ins Licht und studiert die asymmetrischen Intarsien, die ihm vorkommen wie eine naive Darstellung des Planetensystems.
    Er hält inne, spürt den Regen nicht mehr, nicht den Wind, der draußen den Hof fegt wie ein grämlicher Hausmeister, es ist ein elektrischer Impuls, der aus dem Kästchen springt, noch ehe er es geöffnet hat. Er spürt: deswegen ist er gekommen. Die philosophischen Verrenkungen um Bestimmung und Entscheidungsfreiheit sind verflogen wie die Übelkeit, er holt Luft und öffnet den wunderlichen Zigarrenkasten.
    Innen ist er mit rotem Samt ausgeschlagen, und in einer Aussparung liegt wie ein Amulett ein kreisrunder Gegenstand, ein Schmuckstück, eine Taschenuhr oder ein Behältnis für etwas Kostbares, etwa so groß wie eine Dose Schuhcreme oder Kaviar. Die Oberseite ist mit Ornamenten beschriftet, die augenscheinlich aus der selben Schule stammen wie die Intarsien auf dem Deckel des Kästchens. Fokko berührt das Ding. Es ist aus schwerem, schwarzen Holz gefertigt, wahrscheinlich Ebenholz, denkt er, und die eingelegten Punkte, Flecken und Linien, die wie Sternenbilder eines galaxisfernen Himmels aus der Maserung des Holzes hervorschimmern, sind wahrscheinlich aus Metall, Elfenbein oder gar aus Stein, Marmor vielleicht, Granit.
    Bedächtig nimmt er das kuriose Ding aus dem Kästchen und dreht es in den Händen. Es ist schwerer, als er es sich vorgestellt hat, und das Gewicht oder die Bewegung, in die er es versetzt hat, erzeugt offenbar eine unerklärliche Energie, denn in den Sekunden, die er es nun in Händen hält, hat es sich spürbar erwärmt. Es kommt aus dem Inneren, denkt er, es lebt irgendwie, es atmet in meiner Hand, dann aber lächelt er über die Vermutung, jeder Stein wird in den Händen warm, es ist meine eigene Wärme, nichts weiter.
    Von irgendwoher kommt ein Glockenschlag. Es ist wie eine zaghafte Erinnerung daran, daß jenseits der metallenen Klause ein kompletter Kosmos auf ihn wartet, aber er steht schwankend vor Ratlosigkeit inmitten des Mülls, fühlt über den Deckel und den Boden des seltsamen Gegenstandes, nirgends gibt es eine Kante, der Schatz in seiner Hand ist glatt und schwer wie ein Flusskiesel, als er aber genauer hinschaut, entdeckt er eine feine Linie, die die Schmalseite umläuft und sich an einem Scharnier trifft. Das Ding läßt sich öffnen. Er steckt es in
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