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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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sich an ihm abzustützen, um über die Reling zu kommen, gibt der Deckel mit einem jammervollen Quietschen nach und schiebt sich zur Seite. Es ist nicht einfach, ins Freie zu gelangen. Bis über die Knie steckt er in irgendwelchem stinkenden, nachgiebigen Unrat, ihm ist übel und schwindelig, als hätte er tatsächlich eben den Atlantik in dieser Nußschale überquert, und der Deckel besitzt eine Flexibilität, die ihn genau im falschen Moment nachgeben oder zuschnappen läßt. Schließlich gelingt es ihm, ein Bein über das Dollbord zu werfen, den Schwerpunkt seines Körpers mit merkwürdig ruckenden und zuckenden Bewegungen über die Linie zu bewegen, die kalt und hart die Grenze zwischen innen und außen beschreibt, der Rest allerdings geht von allein, die Grenze ist mit eins auch die zwischen oben und unten, er rutscht an der Außenwand des Fischbauches hinab, das zweite Bein folgt schwerelos, und als er nur noch mit den Händen an der eisernen Reling klammert, spürt er plötzlich, daß er auf eigenen Beinen steht. Vorsichtig löst er die Finger, macht ein paar Schritte zurück, und am Ende steht er wankend vor dem seltsamen Sarkophag, in dem er begraben war, sieht und versteht wohl, was ihn umgibt, der gepflasterte Hof, die Häuser ringsum, mit Fenstern, der Vollmond wie halbfette Milch über den Dächern, der kalte Regen, der nun stet auf ihn niederfällt, aber in der Mitte seines Bewußtseins findet er ein kleines, scharf ausgeschnittenes Loch, in das wie ein Puzzlestein der Begriff gehört, mit dem man dieses Rettungsboot, diesen Eisenfisch gewöhnlich bezeichnet. Da er aber ahnt, daß er einen Weg zurück zu sich selbst nur über dieses eine Wort finden wird, bleibt er standhaft im Regen stehen und sucht nach der Vokabel, bis er sie gefunden hat.
    Es ist ein Container. Fokko steht vor einem gewöhnlichen Müllcontainer. Er macht ein paar ausgelassene Schritte über den Hof, um die Kälte zu vertreiben und um sein Hirn in Gang zu setzen, das ihm schwerfällig im Kopf steckt wie ein über viele Jahre vergessener Radioapparat. Die ersten Nachrichten, die gesendet werden, sind ein Durcheinander. Wie gut, denkt Fokko van Steen, daß es kein Biocontainer ist, sonst wäre ich längst verdaut, kompostiert, als Humus auf die öffentlichen Grünanlagen der Stadt gestreut, Vater und Ernährer wunderbarer Blumen des kommenden Sommers.
    Er lehnt sich gegen die Hauswand, wischt den Regen aus seinem Gesicht und schaut sich um. An diesem Fleck ist er schon oft gewesen, er kennt das Haus mit den Fensterläden und der dreistufigen Freitreppe, rechts davon geht man in ein schmales Gäßchen, das in seiner Mitte einen Knick besitzt, links schließen sich weitere Häuser an, bis man auf eine Straße trifft, die mit Kopfsteinen gepflastert ist, doch er weiß nicht zu sagen, wo er sich befindet. Das Gebäude, an das er lehnt, ist ein öffentliches, ein Krankenhaus, Finanzamt oder dergleichen, und es liegt an einem Fluß, über den eine Brücke geht. Der Rest seiner Erinnerung aber ist in diesem Container versunken wie ein angebissenes Schulbrot.
    Der Mond ist unversehens verschwunden, jenseits der Dächer oder hinter den Wolken, die sich immer hastiger über der Stadt zusammenschieben. Das Licht der Laternen, das wie eine abziehbare Folie auf den Flächen klebt, wirft keinen vernünftigen Schatten und wird sich in hundert Jahren nicht mehr verändern. Es ist still, selbst der Regen scheint vollkommen geräuschlos zu fallen, spielt auf dem Deckel des Containers lediglich eine nachdenkliche Cembalosonate, und Fokko kommt es vor, als fehle ihm etwas, nicht nur sein Gedächtnis, irgendwas anderes muß ihm konkret verloren gegangen sein, er fühlt den Verlust, wie man eine Narbe spürt und sich der Wunde erinnert, ohne den Schmerz zu empfinden. Etwas ist von ihm gegangen, hat Übelkeit und Schwindel hinterlassen, dazu ein merkwürdig verfärbtes Gemüt, das sich trefflich von der Gedächtnisschwäche nährt, eine tiefsitzende Melancholie, die er nicht kennt, der er zeitlebens gewohnt ist, die Welt im Sonnenlicht zu sehen, auch wenn sich ein finsteres Unwetter über ihm zusammenzieht.
    Beunruhigt fährt er mit den Händen über seine feuchten Kleider, tastet über seine Brust, sucht nach seinem zerstreuten Herzen, als sei es ein kleiner Apparat in seinem Inneren, der von Zeit zu Zeit einen kameradschaftlichen Stoß benötigt, und da er mit den Fingern dem Schlag seiner Lebensuhr nachspürt, kommt ihm mit kristallener Klarheit in den
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