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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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gestrichen kommt, und das Licht der Laterne ist ein guter Mond. Er nimmt seinen Rucksack auf den Schoß, öffnet ihn und beginnt Stück um Stück, seine Erinnerung zu kitten wie eine alte Vase, ein Familienerbstück gleichsam, das irgendwer an die Wand gepfeffert und in einige Dutzend Scherben hat zerspringen lassen: nicht besinnungslos vor Trunkenheit, eher, um einen Verlust auszugleichen, eine emotionale Unwucht sozusagen.
    Er holt die Taschenlampe hervor und leuchtet in den Rucksack. Zunächst erkennt er die Ordnung als solche wieder, dann spürt er körperlich, daß dort drinnen seine Erinnerung lebendig ist wie ein schlafendes Tier, das er nur sorgsam aus seiner dunklen Behausung heben muß, um es erwachen zu lassen. Ein einziger langer Blick reicht ihm: das alles hat er gestern eingepackt, am Sylvestertag, es dokumentiert das Motiv seines Aufbruchs, des Abschieds, die schreckliche Kälte weicht plötzlich einem Feuersturm in seinem Inneren, er schließt den Rucksack, als könnte er die aufglühende Erinnerung ins Koma zurückfallen lassen, richtet sich schwankend auf, hält sich am Dollbord des Bootes fest, und hebt sein Gedächtnis über die Reling, um es vorsichtig auf die Kante des Kübels zu setzen.
    Dann schaut er sich um, und ihm ist plötzlich schlecht vor Angst, irgendwas Lebendiges sitzt mit ihm zwischen den Innereien des Fischbauches, keine Ratte, keine Schlange, etwas Unheimlicheres, eine verlorene Seele oder ein untotes Wesen, das sich von Erinnerungen ernährt, und statt sich mit aller Kraft über den Rand des Käfigs zu schwingen, von dem er doch weiß, daß er ein gewöhnlicher Müllcontainer ist, statt den Deckel krachend über die schaurige Lagerstatt fahren zu lassen und mit der Erinnerung im Rucksack in der Nacht zu verschwinden, besetzt ihn nun ein unwiderstehlicher Drang, dem sonderbaren Phänomen nachzugehen.
    Mit heißem Kopf, in dem jeder Gedanke längst zu einer Chimäre destilliert ist, am ganzen Körper vor Angst zitternd durchwühlt er den Dreck, wirbelt einen üblen Gestank auf, den auch der stete Regen nicht fortwaschen kann, und als er glaubt, ohnmächtig werden zu müssen und ein zweites, endgültiges Mal in diesem abscheulichen Schmutz zu versinken, fällt sein Blick auf den Karton, auf dem er just noch gesessen hat. Da ist er mit einemmal sicher, das Geheimnis steckt dort drinnen, nirgends anders.
    Der Gedanke macht ihn ruhiger. Er öffnet den Karton und findet ein Etui mit einer alten Brille, eine Federmappe mit allerlei Schreibgeräten, ein hölzernes, mit Intarsien verziertes Kästchen, eine kleine Kladde, eine Tabakspfeife und einen Bund mit rostigen Schlüsseln. Das alles liegt auf einem Fundament von Büchern, allesamt naturwissenschaftliche Werke, akademisches Strandgut sozusagen, der Nachlaß eines Physikers vielleicht, auf jeden Fall aber nicht erst jüngst hinterlassen, gewiß schon vor vielen Jahren oder Jahrzehnten.
    Fokko räumt die Bücher in den Karton zurück, legt Brille, Federmappe, Tabakspfeife und Schlüsselbund sorgsam obenauf, die Kladde aber macht ihn neugierig, er hält sie dem Laternenlicht entgegen und schlägt sie auf. Es ist eine Art Anschreibebuch voller Notate in einer wunderschön ruhigen, aber schwer lesbaren Schrift. Jede Eintragung ist mit dem Datum ihrer Niederschrift versehen, allesamt aus den frühen Fünfziger Jahren über einen Zeitraum von etwa zwei, drei Jahren. Die Aufzeichnungen sind physikalische Protokolle oder dergleichen, es ist ein Logbuch diverser Forschungsreisen, bisweilen mit privaten Skizzen verziert: Mit Maria im Hotel zu Abend gegessen. Es sitzt die Zeit dabei wie ein zappelndes Kind, spielt mit dem Besteck, zuppelt an der Decke und fragt ungnädig, wann endlich das Essen kommt. Maria hingegen, obwohl sie von der selben Eile getrieben sein muß wie ich, sitzt mir gegenüber, als wäre sie eine Baronesse in der Sommerfrische. Ich glaube, ich liebe sie.
    Der Eintrag ist nun bald fünfzig Jahre alt, aber Fokko fährt mit der Spitze seines Fingers so behutsam über die Schrift, als wäre die Tinte noch frisch.
    »Das ist einmal gewesen«, sagt er still und schlägt die erste Seite der Kladde auf. Da steht der Name des Verfassers, Hermann-Josef Sparenberg , und ein Zusatz, ein Motto für die künftigen Eintragungen: Da die Zeit in steter Bewegung ist, so steht alles das, was in ihr geschehen wird, von vornherein fest. Offensichtlich war das Thema dieses Mannes die Unbegreifbarkeit der Zeit, er hat wohl seine eigenen Schlüsse
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