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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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um die Wirklichkeit auszusperren, aber da spürte ich plötzlich den Zeitstillstand körperlich, als wenn mich ein seltsames Fieber erfaßt hätte, und ich dachte: Sie hat Feierabend und wird ihn vorläufig nicht genießen können, aber daheim wartet auch niemand auf sie, nirgends.
    Dieses Fieber war die Allmacht.
    Ich berührte sie. Ihr Haar, ihre Wange, ihr Bein, das sie auf einen Stuhl gestellt hatte. Ich habe sie gestreichelt. Überall dort, wo sich ihre kühle Haut fand, an den Händen, Armen und zwischen ihren schönen Beinen. Die unwiderstehliche Lust, die ich verspürte, sie war indes weniger eine sexuelle als eine Art sozialer Begierde nach jemandem, der ein wenig Wärme ausstrahlt, mit dem man ein Wort wechseln kann. Ich habe sie intim berührt, es war mir außerordentlich peinlich, ich habe ihr Geschlecht gestreichelt, nachdem ich die Vorhänge vor die Kellerfenster gezogen hatte, aber erreicht habe ich nichts weiter als ein klebriges Gefühl von Schuld und Scham.
    Ich müßte sie schon vergewaltigen, und selbst wenn sie gleich zum Leben erweckt würde, wäre es so etwas wie ein nekrologischer Akt, bei dem ich größte Schwierigkeiten mit der Erregung hätte, ständig an Merreth denken, mich vor mich selbst ekeln müßte, und was soll man überhaupt mit einer Frau reden, wenn sie von einer Sekunde auf die andere von einem Gespenst vergewaltigt wird? Vielleicht wird sie eines Tages, wenn die Zeit wieder das ihre tut, glauben, sie hätte eine Phantasie gehabt. Richtig unangenehm könnte es nur werden, wenn just in diesem Augenblick die skythische Uhr abliefe und den Stillstand des Universums beendete. Als müßte ich von den bizarren Ideen einen förmlichen Abschied nehmen, schloss ich die Frau in die Arme, und da gab sie, wie mir scheinen wollte, einen scheuen Laut von sich, einen ersten oder letzten Atemzug. Ich bekam es mit der Angst zu tun, zog mich zurück, rückte ihr alles wieder zurecht, zog den Vorhang auf, entschuldigte mich und dachte erleichtert: sie würde ohnehin nur Niederländisch sprechen.
    Fokko legt den Stift beiseite und klappt das Tagebuch zu.
    »So wird es sein«, sagt er. »Kein Stück anders. Also ist es vollständig sinnlos, überhaupt nach Amsterdam zu radeln.«
    Verwundert schaut er sich um. Sitzt noch immer neben dem alten Sluiter auf der Bank vor dessen Laden, die junge Frau stemmt sich in die Pedale ihres Fahrrades, die Kirchturmuhr von Bowen-Pekela zeigt drei Minuten nach sechs und nichts ist irgendein Stück weiter. Er hat die Zeit vollkommen verloren, keine Ahnung, ob er eine Stunde geschrieben hat oder eine Woche. Das Kassenbuch des Vaters liegt steinschwer auf seinen Knien. Er schlägt es wieder auf, blättert zurück und liest, was er geschrieben hat.
    »Es hat den selben Wert«, sagt er dann. »Was ich aufgeschrieben habe, ist so, als hätte ich es erlebt. Ich werde mich an Amsterdam und das Rijksmuseum ebenso erinnern wie an meinen Aufenthalt an diesem Kanal.«
    Also, denkt er, muß er nirgends hinfahren, weil er jede Reise im Kopf lebendiger erleben kann als eine Wirklichkeit, die sowieso keine mehr ist. Nur das Schreiben wird ihn retten, das erkennt er plötzlich in eiserner Evidenz. Also setzt er ein Sternchen in das Tagebuch und schreibt darunter: Ich fahre nach Pogum. Werde in Hamelmanns Universalbibliothek regelmäßig zu Gast sein, werde nichts als lesen und schreiben, hin und wieder Merreth in Critzum besuchen und auf das Ende des Stillstandes warten – oder auf mein eigenes.
    Er fotografiert den alten Sluiter, dessen Frau beim Geldzählen, das Bett im Schaufenster, das Dorf Boven Pekela mit dem Kanal und die blonde Frau auf dem Rad. Dabei kommt es ihm vor, als wäre da ein Licht in ihren Augen, wie man es gelegentlich bei Menschen im Koma zu erkennen glaubt. Zum Schluß macht er ein Bild von der Kirchturmuhr. Die Fotos werden vielleicht für alle Zeiten auf den belichteten Filmen unentdeckt bleiben, weil er sie nicht entwickeln lassen kann, es ist ihm aber wichtig, seine Expedition zu dokumentieren: als könnte er je in die Verlegenheit kommen, etwas beweisen zu müssen.
    Dann bricht er auf. Könnte jeden beliebigen Weg nehmen, um heim zu kommen, aber er nimmt exakt den, auf dem er hergefahren ist: als müßte er seine eigene Spur auslöschen. Dabei fotografiert er alle signifikanten Orte, spricht sehr viel mit sich selbst und schreibt, wenn er rastet, jeden Gedanken in das Tagebuch. Das Selbstgespräch, für einige Zeichen des beginnenden Wahnsinns, rettet ihm
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