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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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setzt sich ein letztes Mal neben den Alten auf die Bank. Es gibt eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Amsterdam oder Pogum.
    Ich werde nach Amsterdam fahren, denkt er, holt das Tagebuch aus dem Rucksack und schreibt: Ich fahre nach Amsterdam. Dann sitzt er eine Weile ohne jeden Gedanken da, aber der Stift gehorcht unter der verlorenen Chronologie offensichtlich auch sich selbst. Die gleichförmige Kulturlandschaft , schreibt er, die ich dieser Tage durchmesse, beruhigt mein Gemüt, es scheint etwas Heilsames von der Ruhe des Blicks auszugehen, die Weite des flachen Landes, nirgends eine überraschende oder beängstigende Wendung in dieser Landschaft, es kommt mir vor wie ein Geographie gewordenes Leben, in dem ich mich in schönster Gelassenheit voranbewegen kann, so allein, daß ich auf nichts und niemanden achten muß, die Vergangenheit hat mich irgendwann verlassen, die Zukunft hat sich mit der Gegenwart verbündet, so ist alles eins, nichts mehr unerwartet, und ich fühle mich wie ein Säugling in den Armen der Mutter: aufgehoben in warmer Liebe und vollkommen frei von jeglicher Furcht.
    Für einen Moment läßt er den Stift sinken, wirft einen flüchtigen Blick zum alten Sluiter, als könnte der ihm mit einem spöttischen Lächeln über die Schulter schauen, da ist aber der Stift schon wieder auf den Zeilen des Tagebuchs unterwegs.
    Hinter Hoogeveen mache ich Station in einer kleinen Stadt. Die Menschen sind geschäftig eingefroren wie überall. Ein Kleinkind hat sichtbar die Kontrolle über sein Rad verloren und wird in der nächsten Sekunde auf die Straße rollen. In den schreckensweiten Augen der Mutter, die eben eine Bankfiliale verläßt, steht aufgeschrieben, was geschehen wird. Der Lieferwagen einer Tischlerei nähert sich. Der Fahrer spricht mit geneigtem Kopf auf seinen Beifahrer ein, ahnt nicht, daß er mit dem nächsten Atemzug ein Kind überfahren wird. Ich lehne das Kinderrad an eine Laterne, trage den Jungen in den Schalterraum der Bank und setze ihn in einen üppigen Ledersessel. So funktioniert vermutlich das Geschäft der Schutzengel. Sie besitzen die Möglichkeit, den Fortgang unserer Lebensgeschichte für einen entschlossenen Handgriff des Schicksals oder länger anzuhalten, um uns durch die Begegnung mit einem anderen Menschen eines besseren zu belehren.
    Neben dem Sessel, in dem nun mit großen Augen voller Entdeckerfreude der Junge saß, dem ich das künftige Leben gerettet haben mochte, fand ich ein ledernes Sofa, bei dessen Anblick mich eine sagenhafte Müdigkeit überkam. Ich denke, ich war schon eingeschlafen, bevor ich recht zu liegen kam, träumte davon, wie ein fremder Mann mein Fahrrad stiehlt und mich auf das Ledersofa legt, ohne daß ich mich irgend wehren könnte, obgleich ich die Sache haarklein und vollkommen bewußt miterlebe. Als ich erwache, weiß ich wieder nicht, wie lange ich geschlafen haben könnte. Meine innere Uhr geht nicht zu bemessene Wege. Es geht nicht darum, daß man einen eigenen Rhythmus innerhalb des traditionellen findet, es ist wie in einem lichtlosen Verlies, in dem nichts geschieht. Das letzte Maß, das mir bleibt, sind die räumlichen Entfernungen. So werde ich versuchen, in einem Stück bis nach Lelystad am Markermeer zu fahren, ein synthetischer Ort auf einem Polder, aber im engeren Sinne ist jeder Ort künstlich, mag er auch tausend Jahre alt sein.
    »Das ist wahr«, sagt Fokko halblaut, schaut über den Kanal auf die Kirchturmuhr, notiert: Das zuverlässige Kontinuum der Zeit ist der Bezugspunkt für alles Werden und Vergehen. Nichts geschieht außerhalb einer Chronologie.
    In die nächste Zeile setzt er ein Sternchen und schreibt weiter.
    Endlich in Amsterdam! Die Stadt strahlt trotz der Erstarrung eine virulente Kraft aus, es scheint Samstagabend zu sein, und ich gewinne den Eindruck, überall wird nur gegessen, getrunken und geliebt. Ich beschreite ein numinoses Sittengemälde in den Straßen, den Cafés und Geschäften, und wenigstens in der Bewegungsunfähigkeit wirkt der Anschein des kollektiven Glücks echt, aber das funktioniert bestimmt nur unter den barmherzigen Strahlen der Abendsonne.
    Gleich in der Nähe des Bahnhofs verlor ich mich in keineswegs verschwiegenen Gassen, öffnete sich mir ein bedenkenlos begehbares Panoptikum der Fleischeslust, so honigsüß wie zum Erbrechen schal, ich nahm mir die Freiheit, durch eines der kunterbunten Häuser zu flanieren: hinter der ungenierten Frivolität viel Gewöhnlichkeit und seelische Armut, wie
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