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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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die Augen. Die Litanei des Geistlichen zieht sich zurück und gibt einer anderen Stimme Raum. Für das neue Jahr habe ich mir einiges vorgenommen , spricht sie, und ihre Färbung besitzt was vom Wesen eines Giftpilzes. Was denn , hört er sich selbst fragen, und nach einer Weile: Willst du abnehmen? Weniger Alkohol trinken? Auf eine Antwort indes wartet er vergeblich, weiß wohl, es ist Evas Stimme gewesen, weiß auch, daß sie die Frage beantwortet hat, aber ihre Worte werden von seinen Gefühlen überspült wie ein Papierschiffchen von der Sturmflut.
    Er reißt die Augen auf. Das matte Kirchenlicht springt ihn an, die Stimme des Priesters hebt sich in einen choralartigen Singsang, der in einer Hebung endet, auf die ein müder Chor aus dem Mittelschiff verzagte Antwort gibt. Etwa ein halbes Dutzend alte Frauen kniet in den vorderen Bänken, barmherzige Seelen, denen das ewige Paradies lange schon versprochen ist, und keine von ihnen ahnt, daß nur durch eine der mächtigen Säulen und den tiefen Schatten von ihnen getrennt eines Menschen Herz ausglüht wie ein Stück Lava im Ozean der Gleichgültigkeit.
    Der Geistliche hantiert mit den liturgischen Gerätschaften und kommentiert die sakrale Handlung mit routinierten Worten, die in den Kirchenraum entschweben wie inkarnierte Papierflieger der Frohen Botschaft. Die Zeit scheint verloren, die Kälte kriecht gnadenlos in Fokkos Glieder zurück, seine Zähne schlagen aufeinander, er beißt sich auf die starren Finger, damit sich der Schüttelfrost nicht in die hohen Resonanzbögen des Gotteshauses verselbständigt wie das Feuer eines Maschinengewehrs, mit dem jemand versucht, Gebete aus den Gewölben zu schießen.
    Der Schlag der Uhr bewahrt ihn davor, auf der Stelle wahnsinnig zu werden.
    Die Viertelstundenglocke schlägt viermal an. Die Stunde, welche auch immer es sein mag, ist an ihr Ende gekommen. Fokko kommt es vor, als müßte er aus seinem bösen Traum entlassen werden, er schielt mit einem Auge nach einem goldenen Fleck im Blattkapitell, in dem sich das flackernde Kerzenlicht vom Altar niederschreibt, und er horcht auf die Stundenglocke, die ihre schweren Schläge zwischen die Zeilen der Lesung setzt, die der Meßdiener mit scheuer Stimme verliest.
    Sieben Schläge. Sieben Uhr.
    Mit der Sekunde, die dem letzten Schlag folgt, ist alles zurück. Es ist der Augenblick, in dem der Priester schweigt, der Zeitpunkt der Erkenntnis. Mit dem siebten Glockenschlag erinnert er alles, der Film kommt rasend in Bewegung, er schüttelt den Kopf, als wollte er sich von allen Sünden befreien, doch die Absolution ist nichts anderes als die Wahrheit. Nichts hat er wirklich vergessen, kein Bild, kein Wort, keine Fibrille seines Schmerzes. Eva hat ihn verstoßen, verjagt. Verlassen.
    Das ist gestern gewesen. Der Tag vor Neujahr. Bis zum Mittag hatte er gearbeitet, dann war er in die Wohnung gekommen und Eva war weg. Das war nicht weiter ungewöhnlich, um die Zeit war sie häufig einkaufen, Besorgungen machen oder laufen. Fokko hatte sich mit Tee und Bananenbrot in seinen Radiosessel verkrochen, um wie jeden Freitag Punkt vierzehn Uhr Die barocke Note zu hören, eine Sendung über alte Musik für Spezialisten, die mit einem wissenden Lächeln den Unterschied zwischen einer Oboe d’amore und dem Heckelphon heraushören, den zwischen einem Klavierkonzert von Rachmaninow, gespielt von Vladimir Horowitz oder vom Komponisten selbst.
    Zwar rechnet sich Fokko nicht zu jenen Spezialisten, aber das Stadium des interessierten Laien hat er wohl hinter sich, war eben in ein Sonate für Violoncello und Basso continuo von Francesco Geminiani versunken, eine seltene Aufnahme, die noch nicht digitalisiert war, erinnerte sich gerade an einen ähnlichen Raumklang, eine ähnliche Atmosphäre, in Stockholm, glaubte er, irgendwann vor dem Kriege in der schwedischen Hauptstadt zwei Klaviere in einem ungeheuerlichen Tempo, da huschte ein Schatten in den Rand seines Gesichtsfeldes, mit dem Kopfhörer wurde ihm mittens des dritten Satzes die himmlische Harmonie affettuoso aus dem Kopf gerissen, und unversehens hörte er nichts anderes als Evas aufgeregten Atem.
    Es ist etwas Schlimmes geschehen, hatte er sofort gedacht und nebendran in einer Übersprungshandlung zunächst in das Bananenbrot gegriffen. Dann erkannte er die Angriffslust in ihren kleinen Augen, die wie zwei parallele Laser aus ihrem rotfleckigen Gesicht hervorblitzten. Sie hatte beim Laufen ihr Adrenalindepot nicht restlos abfackeln können,
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