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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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die Tasche seines Parkas, um es vor dem Regen zu schützen und vor fremden Blicken. Ich bin ein Dieb, denkt er, aber es berührt ihn nicht, er schließt das Kästchen, räumt es sorgfältig in den Karton zurück, wirft wie jemand, der das Elternhaus für immer verläßt, einen letzten Blick auf die Innereien des Eisenfisches, in denen er eine erinnerungslose Nacht verbracht hat, ist mit einem Schwung über die Reling, schließt den Container, nimmt seinen Rucksack auf den Rücken und schaut sich um.
    Alles ist ihm unversehens klar. Er steht auf dem kleinen Hof vor dem Gymnasium. Evas alte Schule. Vor ihm das Haus des Domorganisten mit der kleinen Treppe aus Sandstein. Aus dem Schornstein steigt ein dünner Faden Rauch in den regnerischen Himmel, und im Hintergrund über dem Dach ist wie aus schwarzem Papier die Silhouette der Kirchtürme geschnitten. Rechter Hand hinter dem großen Tor der Eingang in den Hexengang, dessen erstes Stück die Ecke der Schule durchschneidet und also überdacht ist. Dorthin rennt er mit ein paar Schritten, lehnt sich gegen die Wand, hört seinen Atem, die Tropfen, die aus seinen Haaren, seinen Kleidern auf das Pflaster fallen, er weiß nun, wo er sich befindet, hat aber keine Ahnung, wie er an diesen Ort und in den gräßlichen Container gekommen ist.
    Seine Hand umschließt den Schatz in der Tasche seines Parkas. Die Wärme, die von ihm ausgeht, ist noch immer spürbar: wie Gewißheit auf Glück. Deswegen hat er die Nacht in diesem Mülleimer verbracht. Das Schicksal ist unfehlbar, denkt er, aber mithin kann es auch die Büchse der Pandora sein, die er in den Fingern hält, er selbst ein ahnungsloser Götterbote, der das Böse für die Menschheit rettet, kurz bevor eine Planierraupe es für beinahe ewig unter den Müllhalden des Piesbergs versenkt. Aber es ist doch Müll, es soll doch fort, es will keiner haben, aber es will ihn haben, ehe die Müllabfuhr es für immer aus der Welt schafft wie den unguten Geist, der im Container herrscht, es ist nicht der Tod, es ist eher der Teufel, und den kann man nicht so einfach entsorgen, der wartet auf eine naive Seele, die sich an diesen Ort verirrt.
    Eine schwarze Gestalt kommt just um die Ecke des Domorganistenhauses gestrichen, ehe Fokko aber glauben mag, es sei der Leibhaftige, den er mit seinen schwarzen Gedanken beschworen hat, ist sie schon mit fliegenden Kleidern und einem wegrennenden Blick an ihm vorüber und hinterläßt in dem schmalen Gang einen Gruß wie ein Kondensstreifen, der sich nur schwerfällig auflöst: Gelobt sei Jesus Christus!
    Die Glocke schlägt zweimal an. Die Domuhr kündet von der zweiten Viertelstunde, also ist es halb. Halb was? Fokko besitzt keine Uhr, weil er glaubt, wenn man die Zeit mißt, zerteilt man sie und wird zu ihrem Sklaven. Er schaut aus dem Hexengang in den Regen. Die Wolkendecke ist so undurchdringlich wie die Klappe eines Müllcontainers. Der Wind zerrt an den Bäumen am Fluss, versetzt die Laterne auf dem Hof in einen wippenden Takt, aber das Licht ist nicht in Bewegung, es liegt zwischen den Häusern wie ein ungenießbarer Brei, an dem die Zeit wohl oder übel ersticken wird.
    Niemals mehr wird es Tag werden. Die Geschichte ist steckengeblieben, hat sich wie ein uralter Motor festgefressen, die Menschen werden per Stundenfrist begreifen, daß sie die Sonne nicht mehr wiedersehen werden, wie neugeborene Schildkröten dem Meer hetzen sie dem Licht entgegen, aber es wird nirgends zu finden sein, allein der Regen fällt weiter, eine letzte Sintflut trägt die Überlebenden auf Totenschiffen durch die schwarze Nacht und in eine apokalyptische Kälte.
    Mindestens sechs Uhr, halb sechs, muß es sein, vielleicht sieben.
    Eventuell, so kommt ihm in den Sinn, ist der Dom schon geöffnet und ein wenig geheizt. Er braucht jetzt unbedingt einen trockenen Platz, wenn er sich nicht den Tod holen will, noch ehe die Sintflut ihn davontragen wird. Der Regen ist ihm in den Kragen gelaufen, die Füße stecken ihm feucht in den Stiefeln, die Übelkeit hat sich wie ein kalter Umschlag auf die Brust gelegt und nimmt ihm den Atem.
    Ausgangs des Hexengangs kommt ihm ein streitsüchtiger Wind entgegen, kriecht unter seine klammen Kleider und beginnt, ihm die Haut vom Fleisch zu sezieren. Er wirft einen Blick über den Domplatz. Kein Mensch ist zu sehen, im Portal des Bischöflichen Palais schaukelt Licht über die Treppenstufen wie von einer Bootslaterne, die kahlen Bäume stecken in den Untiefen des Platzes wie vergessene
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