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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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Lebens zurück, machte dem Schiffszimmermann das Frühstück, weckte später den Sohn, stand jeden Morgen an der Hecke, um ihm zuzusehen, wie er das Rad aus dem Schuppen holte und sich mit einem Klingeln für den Vormittag verabschiedete. Ihm war das damals natürlich unangenehm, sie aber hat sich das Lebewohl in viele kleine, erträgliche Stücke geteilt.
    Die Abendsonne steht bei West-Südwest. Er hat sich ausgerechnet, daß er ziemlich genau immer der Sonne entgegenfahren muss, um nach Amsterdam zu kommen, das erste Stück des Weges vielleicht bis Winschoten. Das wäre dann der achte Tag.
    Ohne jeden Wind geht das Radeln federleicht. Er fliegt durch Bunderhee, am ehrwürdigen Steinhaus vorüber bis nach Bunde, ist im Nu über die Bahnlinie, an der Autobahn entlang und bei Nieuweschans über die Grenze. Bis hierher reicht sein Land, und als er durch das beschauliche Beerta fährt, schwebt in einem Garten ein Mädchen über einem Trampolin, zwei Männer wechseln an einem Bäckerwagen einen Reifen und unversehens werden ihm die Beine schwer, es kommt ihm vor, als verlasse er jetzt die Bühne seines Kindertheaters, und das Heimweh spannt sich wie ein Gummiseil im Rücken mit jedem Kilometer fester.
    Nördlich von Winschoten schiebt er das Rad quer über die Autobahn durch den rasend stillstehenden Verkehr, ein lebensgefährliches Unterfangen, wie er weiß, aber im Moment ist ihm das gleichgültig. Er macht einen Bogen um die Stadt, quält sich mit bleischweren Beinen die niemals enden wollende Straße von Pekela hinab, um einen Flecken zu finden, an dem er für eine Nacht bleiben kann. Als er längst durch Oude Pekela gefahren ist und Nieuwe Pekela hinter sich gelassen hat, entdeckt er an einer Kreuzung in Boven Pekela, dort, wo eine Brücke über den Kanal führt, der ihn seit Winschoten treu begleitet, ein paar Läden, eine Kirche und vor allem eine Sitzbank unter einer großen Kastanie, die in früher Blüte steht.
    Der Schatten unter dem Baum tut ihm gut wie ein Bad im kalten Wasser eines Weihers am Ende eines heißen Tages. Er ißt ein wenig Brot und Käse, trinkt zwei Wasserflaschen aus und bemißt auf der Karte die Strecke, die er gefahren ist: von Critzum nach Boven Pekela waren es etwas weniger als fünfzig Kilometer. Das ist nicht viel und nicht wenig. Die Uhr am Turm der Pekelaer Kirche zeigt drei Minuten nach sechs.
    Eine junge Frau hat sich soeben von ihrem Fahrradsattel erhoben, tritt offenbar kräftig in die Pedale, um mit Schwung über den Bogen der Kanalbrücke zu fahren, ihr Kleid hat wie das blonde Haar die Gesetze der Schwerkraft überwunden, beides ist in Wellenbewegung wie auf einem Schnappschuß von einem Wind modelliert, der ihr von vorn entgegensteht und wahrscheinlich aus dem Emsland gekommen ist, als er noch wehte.
    Jenseits des Kanals sitzt vor einem Laden auf einer Bank ein alter Mann mit schlohweißen Haaren, hält die Hände gefaltet auf den Knien beisammen, den Rücken gebeugt, den Kopf erhoben mit einem kritischen oder lebenssatten Blick über die Brücke, über den Fluß, an der Schönheit der jungen Radfahrerin vorbei direkt in Fokkos Augen.
    »Das bin ich«, sagt er, »am Ende meiner Tage. Ich habe lediglich das Ufer gewechselt.«
    Es kommt ihm vor, als übertrage sich die erdenschwere Müdigkeit des alten Mannes auf der anderen Seite des Kanals unmittelbar auf ihn selbst und mit eins begreift er, daß er für immer und ewig in der erstarrten Welt umherirren wird wie der einzige Überlebende einer globalen Katastrophe, und der Greis dort drüben ist nichts als eine in die Zukunft projektierte Spiegelung.
    Er sucht seine Sachen zusammen, läßt das Rad, wo es ist, und geht über die Brücke ans jenseitige Ufer, als lasse sich so die Zeit überlisten. Als er die junge Frau passiert, ist er für eine Sekunde versucht, ihr unter das leichte Kleid zu greifen, um nach einer Wärme zu fahnden, der er sich kaum noch erinnert, aber er läßt es kopfschüttelnd, geht des Weges und setzt sich neben den alten Mann auf die Bank. Drüben sitzt niemand mehr unter der Kastanie, nur das alte Rad lehnt am Baum, als wäre es dort eingewachsen. Es kommt ihm vor, als würde sich die schlichte Landschaft ganz langsam ausdehnen, das jenseitige Ufer zurückweichen, die Brücke strecken, als wäre der Verlauf des Kanals die genuine Linie, an der das Land in zwei Teile brechen wird, ein Riß, der vom Südzipfel des Dollart bis runter nach Meppel und in die östliche Ecke des Ijsselmeeres reicht, wird zu
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