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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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also die Uhr sein Leben an, das der restlichen Welt geht weiter, ohne daß er ihm folgen könnte. Aber, denkt er dann und lacht, wenn er die Uhr jetzt schließen könnte, würde die Welt ja doch nahtlos an das anknüpfen, was vorher unterbrochen war. Da ist kein Sprung drin. Nur er wird älter.
    Gegen den entsetzlichen Mangel an Veränderung sucht er in Bewegung zu bleiben, und wenn er genug mit dem Rad unterwegs gewesen ist, ausreichend fotografiert hat und an Merreths Seite ausgeharrt, setzt er sich mit einem Tee oder einem Bier auf die Terrasse seines Pogumer Hauses, wirft einen abschätzigen Blick auf das Panorama seines Gartens und vertieft sich lieber in die Folianten über die niederländische Malerei des Goldenen Zeitalters, blättert und schaut nach, wo die Bilder hängen, die ihm wichtig sind: einige im Mauritshus zu Den Haag, die meisten freilich im Rijksmuseum.
    »Ich fahre nach Amsterdam«, sagt er irgendwann.

Kapitel 16
     
    Das siebente Mal ausgeschlafen , notiert er bei Gelegenheit in seinem Tagebuch, und im Erwachen stelle ich fest, daß die verrückte Idee vom »Vorabend« keineswegs dem guten Schlaf zum Opfer gefallen ist, vielmehr hat sie die unbestimmte Zeit genutzt, sich tiefer festzusetzen, sich zu entwickeln, und sie besitzt nun, da ich diese Zeilen schreibe, eine Blüte, eine Kraft, daß jeder Zweifel verflogen ist wie nach dem ersten Kuß voller Hingabe, der alles Glück und alle Zukunft in sich trägt. Ich werde nach Amsterdam fahren.
    Wenn durch den Stillstand das Bewegliche zu Fotografie-Motiven gefriert, so überlegt er, dann könnte das Unbewegliche zum Leben erwachen: die Gemälde der alten Meister, die Tag und Nacht seit hundert Jahren unbelebt und zeitlos im Rijksmuseum hängen, werden ihre ureigenste Aura entfalten, immerhin werden die kosmische Stille und die unerbittlich herrschende Einsamkeit das ihre tun, wenn er die unendliche Zahl der riesigen Bildersäle durchschreitet, von denen er gehört hat. Dorthin wollte er immer schon einmal. Und es ist jetzt kurz nach sechs. Wahrscheinlich hat das Museum eben geschlossen, und er wird es für sich allein haben.
    Die Zeitlosigkeit bedeutet nicht nur Verlassenheit und Stagnation, sie bedeutet auch den Verlust der eigenen wie der allgemeinen Geschichte, vor allem ein erzwungener Verzicht auf jeden sozialen Kontakt und – zuletzt vielleicht am gravierendsten – das Verschwinden allen Sinns von Plan und Arbeit. Davor könnte er sich unter Umständen mit der Idee vom Rijksmuseum schützen: weil die Kunstwerke dort unabhängig sind von den Zeitläuften der Menschen.
    Dann kommt ihm das Meer in den Sinn. Es ist für sich allein ein ausreichendes Motiv. Er hat zwar sozusagen immer am Meer gelebt, dennoch war er niemals richtig da, nur an der Ems, am Dollart, am Wattenmeer. Lediglich am Borkumer Strand hat er tatsächlich an der Nordsee gestanden. Und von Amsterdam bis an die niederländische Küste ist es in etwa so weit wie von Pogum nach Leer – und vielleicht bis Critzum zurück.
    Aus allen Taschen sucht er Bargeld zusammen, leiht sich das Kleingeld aus Winterboers Zuckertopf, legt einen Zettel rein und denkt, alle Geheimnisse dieser Welt schlummern in Zuckertöpfen. Viel Gepäck wird er nicht mitnehmen, denn das Wetter verspricht stabil zu bleiben, etwas Wäsche zum Wechseln, ein paar Flaschen Wasser, Zigarettenpapier, Tabak, Werkzeug für das Fahrrad, den Fotoapparat und das Tagebuch.
    Bei der Tankstelle in Jemgum besorgt er sich eine Radwanderkarte der Niederlande, plant und rechnet die Etappen querbeet auf Radwegen oder kleinen Straßen, insgesamt in etwa zweihundertzwanzig Kilometer. Wenn er jeden Tag, also zwischen zwei Schlafperioden, an die vierzig bis fünfzig Kilometer fahren wird, müßte er in fünf Abschnitten in Amsterdam sein. Wenn er dann höchstens eine Woche dort bleibt, könnte er anschließend ans Meer bei Haarlem fahren, nach Bloemendaal oder Zandvoort. So er sich sattgesehen hat, wird er in einem großen Bogen über den Abschlußdeich immer an der Nordsee lang heimwärts radeln. Die Zeit wird er nicht messen können, aber die Etappen scheinen ein brauchbares Maß zu sein, das einem Tag nahekommen könnte. Wind wird es keinen geben, das wird er an der Nordsee bedauern, für die Fahrt hingegen bedeutet es, daß er mit dem Fahrrad weitaus schneller unterwegs sein wird als gewöhnlich. Wahrscheinlich wird die ganze Reise nicht so lange dauern, wie er es sich jetzt vorstellt, und er wird längst wieder zurück sein, wenn
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