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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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eine junge Frau mit einem verliebten Lächeln auf den bernsteinfarbenen Meeresblütenlippen auf dem Sofa ihrer Eltern, an ihrer Seite ein Greis, älter als ihr Vater, der lächelte sie debil an, schliche sich zittrig aus dem Haus und stürzte sich unverzüglich in die Ems.
    Fokko ist wieder müde. Dabei kommt es ihm vor, als wäre er nicht mehr als zwei Stunden auf den Beinen. Vermutlich fehlt der Lauf der gewöhnlichen Ereignisse, die Schwingungen der anderen, die einen gemeinhin tragen und mitziehen wie die Strömung eines Flusses.
    Auf der Suche nach dem Tabak stößt er in seinem Rucksack auf die Flasche Kakao, die er im Supermarkt gekauft hat. Als er sie in Winterboers Kühlschrank stellt, springt er gerade an. Das kann unter dem physikalischen Diktat des Zeitstillstandes kein Zufall sein, so wie der Tee angenehm warm gewesen ist etliche Stunden, nachdem die Uhr im Hafen versank. Ihm kommt die Idee, die materielle Welt könnte allein seinem Willen unterworfen sein, da fällt ihm ein, die automatische Glastür des Konsumtempels hat sich gleichsam reibungslos vor ihm geöffnet und hinter ihm geschlossen. Der Bewegungsmelder hat demzufolge eine Bewegung gemeldet, Elektromotoren besaßen Strom und Kraft, die Türen zu öffnen, es war Licht, die Kasse funktionierte und die Ware in den Tiefkühltruhen wird bis jetzt nicht eine Spur angetaut sein.
    Er spült das Geschirr ab und räumt es zurück, gibt Merreth einen flüchtigen Kuß auf die Wange, hinterläßt den Eltern mit einer linkischen Geste einen Gruß, den sie nie erhalten werden, und erst, als er auf den Deich gefahren ist, hält er inne, dreht sich eine Zigarette und schaut auf das jenseitige Flußufer, wo sich die Dämmerung in den Wacholderbüschen unter den vom steten Wind geneigten Weiden bereithält.
    Wenn das so ist, daß sein Wille, seine Aura oder was auch immer in der Lage ist, Einfluss zu nehmen auf die materielle Welt, dann kann er sich jetzt relativ frei bewegen, nicht nur Tennisbälle werfen und Automatiktüren durchschreiten, höchstwahrscheinlich könnte er sogar mit Schwammheimers Benz einen Ausflug nach Leer oder sonstwohin unternehmen, und wenn ihm unterwegs der Weg durch eingefrorene Fahrzeuge versperrt wäre, müßte er jeden Stau auflösen können, indem er Auto für Auto die kataplektische Person, die am Steuer sitzt, ins Freie zerrt oder auf den Beifahrersitz schiebt und drückt, um den Wagen beiseite zu fahren.
    Was aber passiert dann, wenn die Zeit wieder in Gang kommt?
    Er schüttelt den Kopf. Sollte einen großen Bogen machen um die materielle Welt, nur die unvermeidlichen Berührungen zulassen, sich zurückziehen in sein Pogumer Schneckenhaus oder in eine Art Winterschlaf verfallen, um irgendwann an einem Tag im April aus diesem bösen Alptraum zu erwachen.
    Auf dem Weg nach Pogum überlegt er, was er machen kann in der stillstehenden Zeit. Es wäre sicher intelligent, sie nicht einfach abzuwarten, sondern sie zu nutzen. Aber wie? In der Küche schaltet er das Radio ein. Es rührt sich nichts. Er legt eine CD ein, und ohne weiteres erklingt der erste Satz der Symphonie Nr.1 von Brahms: un poco sostenuto , er ertönt allerdings sehr wenig zurückhaltend, erfüllt den Raum mit machtvollen Harmonien, und Fokko stellt sich vor, die alte Musik kann sich gewissermaßen ungehindert ausbreiten über die Küche und das Haus hinaus, über den Garten und die Felder auf den Fluß und das Meer, weil nichts sich ihr entgegenstellt.
    In ihm widerstreiten das glühende Glück, wenigstens die geliebte Musik in die Einsamkeit gerettet zu haben und eine zähe Ratlosigkeit, weil er sich denkt, daß auch die schlichteste Melodie ohne Chronologie nicht erklingen kann. Demnach ist die Zeit nicht vollkommen verloren, wenigstens nicht für ihn. Die Musik erklingt jetzt einzig seinetwegen.
    Und das Radio? Es muß, sollte es funktionieren, von außen gespeist werden, von einem Sender mit aktuellen Nachrichten: In weiten Teilen des Rheiderlandes ist offenbar die Zeit stehengeblieben. Unseren Reportern ist es nicht gelungen, weiter vorzudringen als bis auf die Bingumer Brücke bei Leer. Jagdflieger der Bundeswehr haben den Sektor zwischen der Ems und dem Dollart mehrfach im Tiefflug überflogen und keinerlei Bewegung feststellen können. Das Phänomen sei unerklärlich und beunruhigend, sagte der zuständige Kreisrat unserem Sender.
    Es hat nichts mit seinem Willen zu tun. Und doch mit ihm, der er als einziger aus der Zeit gefallen ist. Mit dieser
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