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Die Uhr der Skythen (German Edition)

Die Uhr der Skythen (German Edition)

Titel: Die Uhr der Skythen (German Edition)
Autoren: Alfred Cordes
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die Zeit wieder in Gang kommt.
    Als er alles beisammen hat, geht er ein letztes Mal um das Haus in Pogum, schließt es ab und fotografiert es mit Frau Freesemann und dem Huhn im Vordergrund. Dann fährt er zum Ditzumer Hafen. Die Fischbude ist geschlossen, die Friteuse ausgestellt, die Kunden warten geduldig auf Seelachs mit Kartoffelsalat, Eva auf ihren untergehenden Liebhaber. Fokko gibt ihr einen Kuß auf die Wange, winkt Schwammheimer und Fox und macht sich auf den Weg nach Critzum. Der Abschied von Merreth fällt ihm leicht, weil ihm die Nähe unter dem Stillstand mit der Zeit unerträglich wird, weil sie nichts auslöst und Zärtlichkeit nicht mehr und nicht weniger bedeutet als jedes vergebliche Wort.
    Er macht es kurz. Packt sich noch Brot, Käse und Wurst aus der Küche in den Rucksack, klopft den zukünftigen Schwiegereltern kameradschaftlich auf den Rücken und setzt seiner Liebsten einen Kuß auf ihre zauberhaften Lippen.
    »Bis denn.«
     
    Südwestlich von Critzum verirrt er sich beinahe. Der Wirtschaftsweg, den er genommen hat, wird zu einem Trampelpfad und endet an einem Entwässerungsgraben. Er trägt sein Rad ein erhebliches Stück über einen moorigen Acker, ehe er einen Steg findet, über den er auf die andere Seite des Grabens balanciert. Dort hält er für einen Moment inne. Die Sonne steht über dem Land wie das vergessene Flutlicht eines längst aufgelösten Vereins. Die Welt ist hier, wie es scheint, vollkommen unbeseelt, aber das, so denkt Fokko, wird ihm auf seiner närrischen Reise nirgends anders vorkommen.
    Linker Hand schaut in einiger Entfernung eine Kirchturmspitze aus einer Baumgruppe. Es ist der Flecken Marienchor, ein halbes Dutzend Gebäude mit einer Schar Birken, die die Kirche aus roten Backsteinen schützt. Ihr Alter sieht man ihr an: einen runden Rücken hat sie bekommen, ist ein Stück weggesackt in die uralte Erde des Friedhofs, der sie umgibt. Fokko stellt das Rad an eine Hecke und geht zwischen den Grabmälern umher, von denen einige mehrere hundert Jahre alt sind. Vielleicht werden sich jetzt die Verstorbenen aus ihren Gräbern erheben, weil sie glauben müssen, das versprochene Ende aller Zeiten sei gekommen, vielleicht ist er selbst es, auf den sie in den kalten Gruften seit dem irdischen Ende warten und hoffen: der Messias, der am Jüngsten Tag die sündigen Seelen von den unbefleckten trennt.
    »Stehet auf und erhebet Euch!« ruft er über den grabesstillen Friedhof und stützt seine Worte mit einer großen Gebärde des rechten Arms und der aufgesprungenen Hand, die Toten zu erwecken und sie sogleich auf den Weg parallel der Hecke zu komplimentieren, wo sie sich in einer Zweierreihe aufstellen könnten, die vermutlich um den Gottesacker herum und nach Nordwest hin bis in den Nachbarflecken Hatzumerfehn reichen würde: Schlickfischer und Handwerksgesellen, abgestürzte Dachdecker und am Kindsbettfieber verreckte Frauen, viel altes Volk, das seine Gebrechen in Glückseligkeit oder Höllenqual in ein Jenseits hinüberrettet, in dem das Hosianna so ewig erklingen wird wie die niemals endenden Klagegesänge.
    Die kleine Kirche ist geöffnet. In der Bank vor dem Altar kniet mumifiziert eine Greisin in ein unablässig fortdauerndes Gebet vertieft. Fokko setzt sich neben sie, legt ihr die Hand auf den bußfertig gebeugten Rücken und überlegt, wie es ihrem Herrgott nun gehen mag, da mit der Zeit seine geniale Schöpfung zum Stillstand gekommen ist. Wahrscheinlich ist es ihm eine willkommene Spielunterbrechung, während der er darüber nachdenkt, ob es eine gute Idee gewesen sein mag, all die namenlosen Geschichten in Gang zu setzen, die er hat beobachten müssen, seit er am sechsten Tage den Menschen nach seinem eigenen Ebenbild erschaffen hatte.
    So versteinert hat die Mutter in der Pogumer Kirche gekniet, als sie von der Endgültigkeit ihrer Krankheit erfahren hatte, das erste Stück an jenem Tag verstorben, wie Vater später lapidar diagnostizierte, innerlich, erklärte er dazu, entschlossen Abschied genommen vom irdischen Leben und eindringlich Kontakte geknüpft zum himmlischen. Den Schlüssel zur Kirche hat sie sich geben lassen und ist in aller Herrgottsfrühe über den Friedhof an all den Grabstätten mit einem beständigen Kopfnicken vorüber, als mache sie sich mit der künftigen Gesellschaft der Verstorbenen vertraut, versank eine Stunde oder mehr in die Gebete um Vergebung, bis daß die Stundenglocke sechsmal schlug. Dann eilte sie in die kargen Reste ihres
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